Die Gebär- mutter polnischer Kultur

Sie sind wieder da/ Kulturfieber in Krakau  ■ Von Piotr Olszowka

Wahrscheinlich liegt es bereits an der Topographie dieser Stadt, die ein Biotop beheimatet, das sich schwer wegtragen läßt. Nicht vom Kommunismus und auch nicht vom Laissez-faire- Kapitalismus des posttotalitären Neuanfangs. Das Fruchtbare des Mittelalters dauert in dieser Struktur fort. Auf dem Großen Markt (Rynek) ist die Möglichkeit eines Treffens und eines Gesprächs mit irgend jemandem, wie auf der Agora im alten Athen, so gut wie sicher. Dadurch und wegen des überwiegenden Fußgängerverkehrs sinkt die Geschwindigkeit der Stadt, also gewinnt man Zeit für das Interessenlose. Die Entfernungen haben menschlichen Maßstab, ohne die Stadt in eine Fußgängerzone zu verdammen.

Seit dem Mittelalter lag hier das kulturelle, politische und auch wirtschaftliche Zentrum Polens. 1364 wurde die Jagiellonische Universität gegründet, an der dann ein Jahrhundert später Kopernikus studierte. Aus der Perspektive eines Ulysses, der nach fünf Jahren in diese Gebärmutter (siehe Stadtplan) zurückkehrt, ist es erstaunlich. All die Pariser und New Yorker Krakauer, die man lange Jahre nur als Namen in Emigrationszeitschriften las, sind wieder da und trinken den Kaffee im Rio-Stehcafé gemeinsam mit den Gebliebenen: Wajda und Zanussi, Lem und Milosz, Penderecki und Schaeffer. Sogar Mrozek, der unlängst Gast eines Festivals seiner Theaterstücke war, ist noch präsent. Polanski besucht wieder seinen Vater, und der tote Kantor glänzt jeden Abend durch seine Abwesenheit in Aujourd'hui c'est mon anniversaire. Wie Karol Wojtyla, der als Papst Polen, diesmal aber nicht Krakau besucht hat. Auch wenn sie momentan woanders weilen, sind all diese Menschen in Krakau vorhanden. Natürlich hat diese ungeheure Konzentration etwas mit dem KSZE-Symposium, das dem kulturellen Erbe Europas gewidmet war, zu tun. Das „Fine Art Festival“, das parallel dazu stattfand, mündete aber in bleibende Aktivitäten, vor allem was die Theater angeht. Wegen des internationalen Publikums überboten sich Konzerte und Premieren in einem fast fieberhaften Rhythmus.

Wesele („Die Hochzeit“) von Wyspianski, ein neoromantisches Stück, das in einem Dorf bei Krakau spielt, bot schon immer Stoff für politische Diskussionen. Die ganze Hochzeit gerät zum Tanz der Strohmänner um die Ideen der nationalen Unabhängigkeit, die Wyspianski in leeren Diskussionen und Volkstümeleien der polnischen Intellektuellen am Anfang unseres Jahrhunderts leerlaufen läßt. Dieser Tanz ist für jeden Polen ein Symbol der politischen Unfähigkeit, der verspielten Chance, die in dem Stück die Gestalt eines goldenen Horns annimmt, von einem Propheten geschenkt, von einem Bauerntölpel verloren. Es ist kein Geheimnis, daß Wajda — er hat das Stück zum dritten Mal in seiner Laufbahn inszeniert, darunter einmal als Film mit Daniel Olbrychski — ein Anhänger Mazowieckis und Kritiker Walesas ist. Seine Diagnose der politischen Lage wog in Polen immer viel. Auch diesmal, wider Erwarten, weil man vor der Premiere eigentlich von der Gegenstandslosigkeit dieses Dramas in der III. Republik ausging, trennen sich die Geister. Die einen sehen in der Inszenierung eine zutreffende Warnung vor den Gefahren, die aus Populismus und Nationalismus erwachsen, die anderen eine intellektuelle Überinterpretation der Geschichte.

Eine direkte Beziehung zur Wyspianskis Hochzeit weist Die Trauung („Slub“) von Witold Gombrowicz auf. Jerzy Jarocki hat das Stück vor einigen Monaten inszeniert, und wenn man Glück hat, kann man die beiden Dramen, die beiden Regisseure an zwei aufeinanderfolgenden Abenden vergleichen. Eine besondere Bindung schafft die Rolle der Braut, die in beiden Stücken mit derselben Schauspielerin besetzt ist. Gombrowicz war ein radikaler Antikollektivist, der die polnische Romantik und vielmehr noch ihre Rezeption verspottet. Die Trauung ist bei ihm eher eine Vereinigung mit sich selbst als mit einer anderen Person oder Idee. Der Text distanziert sich von jedem nationalistischen Gedanken, es setzt das Individuum als eine absolute Macht, das Kraft seiner Vorstellung die anderen handeln und existieren läßt. Eine bekannte Technik, die bei Gombrowicz insofern perfektioniert ist, als daß der Zuschauer nicht ganz sicher sein kann, mit welcher ontologischen Befindlichkeit er jeweils zu tun hat. Jarocki und sein Protagonist Jerzy Radziwillowicz (Mann aus Marmor) erreichen in diesem Stück eine vollkommene Übereinstimmung miteinander und mit dem Text von Gombrowicz. Wunderschöne Blödeleien mischen sich mit ganz ernsten Monologen, Phantasien eines Sadisten mit karg komponierten politischen Szenen einer Antiutopie.

Neben den beiden großen Regisseuren arbeitet in Krakau ein anderes Multitalent. Krystian Lupa inszenierte mit eigenem Bühnenbild und Kostümen auf der kleinen Bühne des Stary Teatr Dostojewskis Die Brüder Karamasow, eine Acht-Stunden- Vorstellung, die ein der Dostojewski-Lektüre ebenbürtiges Erlebnis bietet. In der Theaterschule kann man noch dazu Lupas Adaptation des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil bewundern, eine Titanenarbeit, die eine exklusive Besprechung verdient hätte.

Das polnische Paradox

Diese Dichte erinnert stark an die siebziger Jahre, als im Stary Teatr – neben Wajda und Jarocki — Konrad Swinarski seine großen Inszenierungen zeigte, allen voran den Prototyp des romantischen Dramas in der polnischen Literatur, Mickiewiczs Dziady („Die Totenfeier“). Jetzt kann man das Stück wieder sehen, als Gastspiel aus Wilna, Heimatstadt des Poeten. Hier werden all die messianischen Ideen formuliert, die Polen als einen Christus der Nationen darstellen, und jeweils eine Führergestalt über das Recht und die Gesellschaft stellen. Das polnische Paradox liegt jedoch heute darin, daß es die Idealisten sind, die versuchen, Polen zum Ende des ideologischen Jahrhunderts zu führen; die Pragmatiker instrumentalisieren den waschechten Fundamentalismus der schwarzen Hundertschaften und werden bald eine Bruchlandung erleben, nachdem das Pendel, auf dem sie jetzt hochfliegen, wieder umkehrt.

Das Wilnaer Theater zeigte auch Ghetto von Joshua Sobol. Dziady und Ghetto inszenierte Jonas Vaitkus, eine Kultfigur des litauischen Theaters, wobei seine Vision der Dziady weniger durch die sehr guten Schauspieler, als durch das Bühnenbild und die Kostüme überzeugte. Die litauische und die jüdische Kultur finden derzeit in Krakau großen Anklang. Eine Mischung aus Exotik und intimer Nähe zieht die polnischen Zuschauer zu kulturellen Veranstaltungen aller Art, wenn sie aus solchen Kulturkreisen hervorgegangen sind, die vormals mit dem polnischen untrennbar verbunden waren. Im Krakauer Bezirk Kazimierz werden jährlich Tage der jüdischen Kultur veranstaltet, die diesmal besonders interessant waren, mit viel Klezmermusik und Tanz auf der Straße, und mit dem Mandala-Theater, das vierundzwanzig Stunden lang ein „Projekt Schulz“ in einem sanierungsreifen jüdischen Haus in Kazimierz durchführte. Die Akteure agierten auf verschiedenen Ebenen des Hauses und des Diskurses: einige lasen aus Bruno Schulz' Büchern, die anderen aßen, tranken, gaben den Besuchern eingemachtes Knoblauch zum Probieren. Es duftete und stank, einige Frauen schliefen, und die anderen strickten, Kinder spielten im Hof und jemand rechnete den Monat ab. Keine Handlung, kein Drama, keine Action. Faszinierend einfach und schön.

Das alles und noch viel mehr wird vom Theater aus Gardzienice in den Schatten gestellt. Eine Truppe von Intellektuellen (eine australische Ethnografin, eine promovierte Japanologin, ein Theologe, ein Philosoph, Philologen, Theatrologen), die seit vierzehn Jahren in einem Dorf lebt. Ihre Stücke erarbeitet sie in Einklang mit der natürlichen und kulturellen Umwelt des polnisch- ukrainischen Grenzgebiets auf Wanderungen und im gemeinsamen Bau der Bühnenbilder. Ein frommer Schüler Grotowskis führt die Gruppe. Er sagte seinem Meister erst non serviam, als dieser sich vom Theater losgesagt hatte. Wlodzimierz Staniewski gelingt es, aus diesen Persönlichkeiten einen totalen Resonator zu bauen, der wie eine perfekte Geige klingt. Wie der Meister Amati seinem Schüler Stradivari das Geheimnis des Geigenbaus übergab, tat es auch der esoterische Meister Grotowski mit der Fähigkeit, aus Menschen (Schauspielern?) ein vollkommenes Instrument zu konstruieren. Staniewski übersteigt mit dem Stück Carmina Burana selbst die unmenschliche Perfektion des Apocalipsis cum figuris des Laboratoriums seines früheren Meisters.

Marginalisierung der Kultur

In Krakau wurde diese neueste Produktion des Ensembles gleich nach dem international bekannten Avvakum, einer Autobiografie des orthodoxen Mönches gezeigt. Ein Stück, das in Baltimore beim Theater der Nationen gezeigt und auch sonst weltweit gefeiert wurde, ein Stück wie ein Film, Demonstration einer Methode, die so präzise ist wie — mit Verlaub — die amerikanischen Ventilationsschachtbomben. Mit der bloßen Perfektion, selbst wenn sie in einem Hochgeschwindigkeitstempo gezeigt wird, erreicht man allerdings nicht das Wesen des Theaters; auch die Struktur des Stückes ist mangelhaft. Das Selbstironische dieser Biografie bezieht sich ebenfalls auf das Theater selbst, kann aber schwer entziffert werden, weil der Zuschauer nicht mit der Gebrauchsanweisung ausgestattet wird, die ihm helfen könnte, das kulturelle Muster zu verneinen, das hier angegriffen wird. Dabei wäre es verhältnismäßig einfach, durch eine Differenzierung des Tempos und der Ausdrucksintensität ein Verständnis beim Zuschauer zu ermöglichen. Um so mehr überrascht das zweite Stück. Wußte man schon, daß diese Darsteller zu allem fähig sind; doch ahnten wir nicht, wie es dieses Theater schafft, Musik und Bewegung, Sacrum und Groteske, Liebe und Quatsch auf diese rapsodische Weise zu vereinen, die einem den Atem raubt und das Eisen der disziplinierten, kohärenten Beschreibung bricht.

Und dennoch, nur ein Blinder würde die Marginalisierung der Kultur in Polen, selbst in dieser Stadt nicht bemerken. Die Buchhandlungen (so lange sie nicht in Klamotten- oder High-Tech-Läden umgewandelt wurden) machen einen tristen Eindruck, gerade durch die früher abwesende Farbe der kommerziellen Produkte (ich wage nicht, sie Bücher zu nennen). Mit der Nostalgie eines alten Antikommunisten läßt es mich an die Lenin- und Engels-Werke denken, die jedoch eine Minderheit in einer Fülle guter, preiswerter Titel darstellten. Damals war es eine Chance der polnischen Kultur, eine Mittlerrolle zu spielen, für einen Josip Brodski oder Bulat Okudschawa, die über polnische Übersetzungen Eingang in den Kanon der Weltliteratur gefunden haben. Man lernte in der Sowjetunion Polnisch, um Anschluß an die Werke zu finden, die keine Chance hatten, legal auf russisch zu erscheinen. Die polnische Kultur war nie ernsthaft von der Sowjetisierung gefährdet. Heute wird sie — außerhalb der elitären Kreise, die viel kleiner sind als in Deutschland — vom Amerikanismus bedroht. Dieser Satz stammt von Andrzej Wajda, einem Mann, der bestimmt nicht im Verdacht steht, antiamerikanisch zu sein.