: FDGB-Mann als Star der IG Chemie
Hermann Rappe verteidigt auf dem IG-Chemie-Gewerkschaftstag einen Wendehals/ Kritik am Vorstandskandidaten ist Kritik am Vorsitzenden/ IG Chemie tagt in der Verliererstadt Bonn ■ Aus Bonn Martin Kempe
Der Star des seit Sonntag in Bonn stattfindenden Gewerkschaftstages der Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik in Bonn heißt Hartmut Löschner. Der ehemalige Funktionär des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, der nach dem Willen der IG-Chemie-Führung am Mittwoch zum stellvertretenden Vorsitzenden der drittgrößten DGB-Gewerkschaft gewählt werden soll, saß am Montag noch auf der Empore des Sitzungssaals und lauschte angespannt den Worten seines Vorsitzenden Hermann Rappe: „Das ist ein Angriff auf den Vorsitzenden“, schimpfte der rechtssozialdemokratische Flügelmann unter den Gewerkschaftsvorsitzenden des DGB. Gemeint war ein Fernsehbericht über das ehemalige SED-Parteimitglied Hartmut Löschner, der seit 1982 als stellvertretender Vorsitzender der Ost-IG- Chemie dem FDGB treu gedient hat, der bis zur Wende als Verantwortlicher für Propaganda und Organisation den „Klassenfeind“ bekämpft hat und nun als Parteimitglied der SPD über Marktwirtschaft und Tarifautonomie redet.
Für Hermann Rappe, der sich in seinem militanten Antikommunismus von niemandem übertreffen läßt, ist das kein Problem. Zwei Kriterien nannte der gestern für Funktionäre aus dem Osten: Wer für die Stasi gearbeitet hat, kann nicht für die IG Chemie arbeiten. Und wer heute noch in der SED-Nachfolgeorganisation PDS mitmacht, hat bei der IG Chemie keine Chance. Frühere SED-Mitgliedschaft dagegen ist für ihn kein Hinderungsgrund: „Wer von sich ganz sicher sagen kann, er wäre unter der kommunistischen Diktatur nicht dringewesen, den beneide ich. Ich könnte es jedenfalls nicht.“ Für ihn zählt nicht der Opportunismus von gestern, sondern der von heute: „Jeder muß eine Chance zum Neuanfang haben.“ Und weil Löschner und auch der zweite Vorstandskandidat Heinz Junge die Ost- IG-Chemie erfolgreich auf die besondere, korporative Linie der West- Organisation gewendet haben, wird Rappe sie auch nicht fallenlassen. Schließlich sei Löschner nach der Wende bei seiner Wahl zum Vorsitzenden der Ost-Gewerkschaft demokratisch legitimiert worden.
Die Aufregung um Löschner ist symptomatisch für die Art, in der die IG Chemie den deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß vollzogen hat. Im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften, die ihre Organisation in Ostdeutschland völlig neu aufgebaut haben, hat die Chemie-Gewerkschaft den alten Apparat ihres Ost- Pendants mit einem großen Teil des alten Personals übernommen, um möglichst schnell in den gebeutelten Chemieregionen der neuen Länder handlungsfähig zu werden. Organisatorisch war sie damit erfolgreich: rund 200.000 Mitglieder haben in Ostdeutschland inzwischen die Beitrittserklärung unterschrieben.
Ob es dabei bleibt, ist fraglich. Kaum eine Branche Ostdeutschlands ist nach der Währungsunion derart abgestürzt wie die Chemieindustrie. Zwar sind einige Chemiestandorte inzwischen gesichert, aber bei massiven Arbeitsplatzverlusten von durchschnittlich mehr als 60 Prozent. Das wird die Mitgliederstatistik wieder drücken. Und auch in ihren Hochburgen im Westen, in den großen Konzernen der Chemieindustrie, etwa bei Höchst in Frankfurt oder bei Bayer in Leverkusen, ist der Organisationsgrad in den letzten Jahren langsam gesunken.
Der Bonner Gewerkschaftstag der IG Chemie läutet die letzte Legislaturperiode ihres allmächtigen Vorsitzenden Hermann Rappe ein. In diesen vier Jahren will Rappe die sozialen Probleme der Einheit gewerkschaftlich „in den Griff“ kriegen und die gewerkschaftlichen Positionen im europäischen Raum ausbauen. Er setzt dabei auf die „bewährten Positionen“ der IG Chemie, also eine enge Kooperation zwischen Gewerkschaft und Unternehmern bei gleichzeitiger Ausgrenzung jeder politischen Opposition. Diese Position ist dank Rappe inzwischen zur Einheitsideologie der IG Chemie geworden. Auch Ex-FDGB-Funktionär Hartmut Löschner ist da ganz linientreu. Seinem Platzwechsel von der Empore auf den Vorstandsstuhl neben Hermann Rappe steht deshalb nichts mehr im Wege.
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