: Aids-Medikament: Erst am Nachttisch wirksam
Auf der VII. Aids-Konferenz waren keine greifbaren Alternativen zu AZT-Therapien in Sicht ist/ Kombinationen mit ddI und ddC zeigen verbesserte Wirkungen/ Erfolge von Star Wars-Programmen in der Medikamentenforschung sind noch nicht abzusehen ■ Von Klaus Lucas
Im zehnten Jahr der Aids-Krise sehen die Wissenschaftler noch immer kein Licht am Ende des Tunnels. Auf der VII. Internationalen Aids-Konferenz in Florenz zeigte sich erneut, daß die Grundlagenforschung bei weitem noch nicht abgeschlossen ist. Weder wurde ein wirksamer Impfstoff präsentiert noch ein Heilmittel vorgestellt. Zwar zeigten sich einige prominente Aids-Forscher, wie Luc Montagnier, Anthony Fauci und Robert Gallo in Florenz optimistischer als noch im letzten Jahr, doch wurde solch ein Optimismus bereits in der Vergangenheit von Zeit zu Zeit wie ein Anabolikum verteilt.
Greifbar ist derzeit lediglich die Behandlung der Aids-Erkrankung. Auch 1991 ist AZT (Handelsname Retrovir) das einzig zugelassene Medikament zur Behandlung von Aids. In klinischen Studien geht es derzeit vorwiegend darum, den Wirkungsgrad von AZT zu erhöhen und dabei gleichzeitig Nebenwirkungen einzuschränken. In diesem Zusammenhang spielen Kombinationen mit antiviralen Wirkstoffen wie ddI und ddC eine Rolle.
Therapiebeginn bleibt weiter umstritten
Ein Hauptproblem ist die hohe Unverträglichkeit von AZT. Sie konnte zwar in den letzten Jahren durch niedrigere Dosierungen gemildert werden, doch führt sie häufig immer noch zum Abbruch der Behandlung. Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß AZT bei verschiedenen Patientengruppen und Krankheitsverläufen unterschiedliche Wirkungen zeigt. Auch der wirkungsvollste Beginn einer AZT-Therapie ist noch umstritten. Der AZT-Hersteller Burroughs-Wellcome favorisiert seit längerem einen Therapiebeginn bei einem Abfall der T-Helferzellen unter einen Wert von 500. Dieser Parameter, bei dem Patienten in der Regel noch keine Symptome der Aids- Erkrankung zeigen, bleibt weiter umstritten. Für einen Therapiebeginn gilt inzwischen ein T-Helferzellenwert von 250, wobei aber auch der Allgemeinzustand der Patienten berücksichtigt werden muß. Ein frühzeitiger Einsatz von AZT wirft auch Fragen nach einer möglichen Resistenzbildung auf, die immer noch nicht befriedigend beantwortet sind.
In einer Follow-up-Studie der University of California San Francisco (UCSF), die in Florenz von Paul Volberding vorgestellt wurde, seien keine nennenswerten Belege für eine Resistenzbildung gefunden worden, die gegen einen frühzeitigen Einsatz von AZT sprechen. Auch seien die Resultate einer Studie der Veterans Administration, wonach eine frühzeitige AZT-Therapie bei Farbigen und Hispanics keine Vorteile gegenüber einem späteren Therapiebeginn gebracht habe, nicht bestätigt worden. Unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit der Studienteilnehmer seien Verbesserungen im Blutbild der Probanden eingetreten.
Dennoch bleibt auch gegenüber dieser Studie Skepsis angeraten. Positive Veränderungen im Zustand der Studienteilnehmer sind immer wieder zu beobachten — insofern stellt die Studie der UCSF keine Neuigkeit dar. Neu ist lediglich die zeitliche Konstanz der Zustandsverbesserungen. Daraus Rückschlüsse auf eine mögliche Resistenzbildung zu ziehen, wäre jedoch voreilig.
Für Ian Weller von der Middlesex Hospital School in London ergeben sich durch AZT und Wirkstoffkombinationen von AZT mit ddI und ddC neue, verbesserte Behandlungsmöglichkeiten. Dennoch sieht er einen Grund zur Vorsicht: „Wegen des Drucks, unter dem wir stehen, sind wir häufig versucht, ein Kapitel zu früh abzuschließen.“ Weller plädiert nicht für einen frühzeitigen AZT- Einsatz. Einziger wissenschaftlicher Beleg für die Empfehlung eines AZT-Einsatzes ab einem T-Helferzellenwert von 500 sei die US-Studie 019 (Zulassungsstudie für AZT), die aber nur geringen Aussagewert über Langzeittoxitität, Effektivität und Resistenzbildung habe.
Star-Wars-Gefahr bei Medikamentenforschung
Wichtige Ergebnisse zu diesen Fragestellungen erhofft sich Ian Weller von der Concorde-Studie, die vom britischen Medical Research Council (MRC) und der französischen INSERM (staatliche Forschungseinrichtung) durchgeführt wird. Diese Placebo-kontrollierte Follow-Up- Studie an über 2.000 symptomlosen Patienten läuft über drei Jahre. Noch in diesem Jahr sollen die gewonnenen Daten der Concorde-Studie überprüft und über eine Fortsetzung der Studie entschieden werden.
Obwohl Weller AZT oder Kombinationstherapien mit AZT noch nicht als der Weisheit letzten Schluß empfindet, warnt er doch vor vorschnellen Erwartungen im Hinblick auf neue Medikamente. Die in Florenz vorgestellten Ansätze zur Entwicklung neuer Medikamente seien zwar interessant, möglicherweise auch vielversprechend, doch noch bestehe kein Grund zum Optimismus. Weller sieht die Gefahr eines „Star Wars“ neuer antiviraler Therapien. Neun von zehn experimentellen Therapien, die vorgestellt würden, erreichten noch nicht einmal die erste Phase der klinischen Erprobung. „Aber“, so Weller, „ein neues Medikament ist erst dann in greifbarer Nähe, wenn es eine Zulassung erhalten hat und auf dem Nachttisch liegt.“
Auch für verschiedene Selbsthilfeorganisationen in den westlichen Industrienationen sind praktische Ergebnisse wichtiger, als ein „Star- Wars-Programm“, das lediglich wertvolle materielle und intellektuelle Ressourcen binden würde. Organisationen wie Gay Mens Health Crisis in den USA oder die Deutsche Aids-Hilfe haben in Florenz ihre Forderungen auch im Hinblick auf Medikamentenstudien vorgelegt. Die Autoren gehen dabei von einer stärkeren Berücksichtigung der Betroffeneninteressen in klinischen Studien aus, die immer noch nicht überall gewährleistet ist.
Das größte Dilemma bei der Medikamentenforschung bleibt davon aber unberührt. In Florenz wurde erneut deutlich, daß die Fortschritte bei der Erprobung neuer Medikamente nur für einen geringen Prozentsatz der Betroffenen bedeutsam sind. Immer noch haben etwa 80 Prozent der weltweit an Aids Erkrankten keinen Zugang zu Medikamenten, die westlichen Standards entsprechen.
Eine AZT-Therapie bleibt in den Ländern der Dritten Welt weiter eine Utopie. „In Tansania betragen die durchschnittlichen jährlichen Aufwendungen für Gesundheitsvorsorge pro Kopf einen US-Dollar“, erklärte John Rutayuga vom tansanischen Center for Natural and Traditional Medizine. Diese Zahl belegt, wie weit Entwicklungsstaaten noch von einer wirksamen Therapie entfernt sind. Ein schwedischer Teilnehmer der Konferenz brachte es auf den Punkt: „Ein Medikament ist erst dann wirksam, wenn es nicht viel kostet.“
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