: „Arme müssen Maßstab politischen Handelns sein“
■ Diskussion über den 2. Bremer Sozialbericht und Armut in Bremen
Der zweite Bremer Sozialbericht wirft ein Schlaglicht auf die im Dunkeln, die man nicht sieht oder nicht sehen will: 40.000 Arme sind mit dem Bericht erfaßt. Andere werden in dem 250 Seiten starken Papier jedoch noch nicht einmal erwähnt: die Obdachlosen oder die Drogenabhängigen zum Beispiel. Deshalb erfuhr die Sozialsenatorin dann auch vor allem Kritik, als sie sich am Dienstag abend der Diskussion über Armut in Bremen stellte, nachdem ihre Behörde diese zweite Bestandsaufnahme der Sozialhilfestrukturen in Bremen vorgelegt hatte.
„Die Menschen kommen nicht vor“, warf Karoline Linnert, Sozialexpertin der Grünen, dem Bericht vor. Er bleibe viel zu sehr auf die Darstellung materieller Armut beschränkt. Linnert kritisierte Sozialpolitik als zu wenig offensiv: „Sozialpolitik denkt zu sehr an Versorgung für Arme.“ Albrecht Lampe, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, in dem die meisten der insgesamt nur sehr wenigen Selbsthilfeorganisationen der Armen und Benachteiligten organisiert sind, forderte angesichts der vorliegenden Zahlen vor allem politische Handlungsschritte. „Arme müssen der Maßstab für alles Handeln sein“, meinte er und bedauerte, daß noch immer keine „ernsthafte Alternative“ zum gegenwärtigen Hilfesystem in Sicht sei. Für soziale Grundsicherung, wie sein Verband sie fordert, mache sich lediglich eine außerparlamentarische Opposition stark. Auch die Grünen hätten in diesem Jahr in Bremen noch keinen Antrag zur Sozialpolitik eingebracht. Nach Ansicht Lampes müßten Initiativen von Sozialhilfeempfängern schwerpunktmäßig gefördert werden.
Bei Armut gehe es heute längst nicht mehr um's pure Überleben, sondern um die „Teilhabe am Reichtum der Gesellschaft“, brachte Gerd Wenzel, der für wirtschaftliche Hilfen zuständige Referent in der Sozialbehörde, in die Diskussion. „Armut läßt sich nicht wegdefinieren“, meinte unterdessen Klaus Jakubowski, Referent für Sozialpolitik bei der Angestelltenkammer. Er regte an, sich einmal Hemelingen anzuschauen, wo die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen um 37 % gestiegen sei: „Das sieht man an den Menschen, den herunterkommenden Häusern und an den Krankheiten der Kinder, an ihrer Fehlernährung.“ Und all dies, obwohl angeblich die Armut in Bremen zurückzugehen scheint.
Zweifel melden sie auch an einer anderen Grundannahme des Sozialberichts an: Nach Veröffentlichung der Leibfried-Studie zu Sozialhilfekarrieren habe die Sozialsenatorin immer wieder betont, daß Sozialhilfe zunehmend nur vorübergehend gezahlt wird, um ausbleibende Zahlungen anderer Leistungsträger zu überbrücken. Dabei werde jedoch verschwiegen, daß die Leibfried- Studie nur die Neuanträge in ihre Stichprobe einbezog — langjährig laufende Sozialhilfeakten aber gar nicht berücksichtigt wurden. ra
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen