: Rappe zum Letzten
■ Die IG Chemie in der letzten Wahlperiode ihres Vorsitzenden
Rappe zum Letzten Die IG Chemie in der letzten Wahlperiode ihres Vorsitzenden
Die Industriegewerkschaft Chemie hat auf ihrem Gewerkschaftstag in Bonn ein weiteres Mal Geschlossenheit demonstriert. Fast 100prozentige Wahlergebnisse für die führenden Spitzenfunktionäre erinnern an DDR-Verhältnisse — der Vergleich geht natürlich unter die Gürtellinie. Denn obwohl die Machtverhältnisse in dieser Gewerkschaft so eindeutig sind wie in keiner anderen, hat sie mit ihrer Aussprache über den Umgang mit ehemaligen Spitzenfunktionären des FDGB und mit den Verwicklungen in das DDR-Herrschaftssystem bewiesen, daß sie immer noch zu freier Diskussion in der Lage sind. Allerdings in den von Hermann Rappe vorgezeichneten Grenzen: eine konfliktorientierte, ökologische, die Basis mobilisierende Politik ist nach wie vor tabu.
Dabei ist keineswegs ausgemacht, daß die auf Zusammenarbeit mit den Unternehmern ausgelegte Politik der IG Chemie immer schlechtere Ergebnisse erzielen muß als eine konfliktorientierte — zumindest solange die Gewinnsituation der Branche so günstig ist wie derzeit. Auch bei der Sanierung der völlig maroden Chemieindustrie der ehemaligen DDR hat Rappe auf Kooperation gesetzt. Frühzeitig ging er in den Verwaltungsrat der Treuhand und hat in einer „Chemieleitungsgruppe“ der Treuhand Perspektiven für die chemische Industrie in Ostdeutschland ausgehandelt. Er wird dabei nicht verhindern können, daß die ostdeutschen Chemieanlagen, wenn sie nicht stillgelegt werden, zu verlängerten Werkbänken der westlichen Konzerne werden. Aber etliche Standorte scheinen inzwischen im Bestand gesichert.
Die IG Chemie muß sich in den nächsten vier Jahren trotz unbestreitbarer Erfolge ihrer spezifischen, kooperativen Gewerkschaftspolitik programmatisch und organisationspolitisch auf die „Zeit nach Rappe“ einstellen. Eine Politik, die seit Jahren die rigide Ausgrenzung vom gesellschaftskritischen Teil der Mitgliederklientel praktiziert, beraubt sich ihres Erneuerungspotentials. Und eine Gewerkschaft, die ihre Mitglieder seit Jahren nicht mehr in die Auseinandersetzungen mit den Unternehmern einbezieht, verliert ihre Mobilisierungs- und Konfliktfähigkeit. Dieser Erosionsprozeß ist in wichtigen Großkonzernen schon weit fortgeschritten: bitteres Erbe des nun erneut bestätigten Vorsitzenden Rappe. Martin Kempe
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