GASTKOMMENTAR
: Die Entdeckung der Langsamkeit

■ Slowenien und der „Tag X“ — Symbolismus und politische Realität

Ohne neue Verfassung, ohne eigenes Geld, ohne eigene Armee, mit erst in letzter Minute zusammengebastelten Staatssymbolen schreitet die Republik Slowenien in die Eigenstaatlichkeit. Gibt es einen Unterschied zwischen dem 26. und 27. Juni? Kaum. Die Euphorie schwindet, langsam, stufenweise. Was man am deutlichsten bemerkte, war zunächst die schroffe, fast brutale Ablehnung des Auslands, des sagenhaften „Europas“. Die zweite ernüchternde Erkenntnis betraf die engmaschige wirtschaftliche Verflechtung der zerfallenden jugoslawischen Föderation. Man kann nicht einfach weg, wenn man mit einem Drittel des Warenverkehrs an der bisherigen Heimat hängt. Und drittens sah man ein, daß man innenpolitisch noch nicht über jene Kondition verfügt, die man braucht, um selbstbewußt und ohne isolationistische Pose nach außen eine glaubwürdige Staatlichkeit zu demonstrieren. Die regierende Mitte-Rechts-Koalition des Sechsparteienbundes „Demos“ hält nur noch mit größter Mühe zusammen, der Kitt des leicht revanchistischen Antikommunismus erwies sich als ungenügend. Viele teilen die Meinung: Wenn es den 26. Juni nicht gäbe, hätten wir schon längst eine neue Regierung.

Es war falsch anzunehmen, daß es möglich sein werde, die jugoslawische Krise ohne zwei parallel laufende Prozesse zu lösen: den der Desintegration und den einer neuen Integration. Nicht nur die noch bestehende jugoslawische Verfassung und Gesetzgebung als Rechtsfaktoren, vor allem das sogenannte alltägliche Leben von Millionen von Menschen erzwangen die Notwendigkeit, nicht gleichsam von der „Stunde Null“ anzufangen. Die Umwandlung der bisherigen Föderation von sechs Republiken in eine Gemeinschaft von sechs souveränen Staaten wird sich eben langsam entwickeln müssen. Die Zwölfergemeinschaft der EG schwebt uns allen als Vorbild vor, und allein daran kann man schon ermessen, wie schwierig es sein wird. Zudem ist Jugoslawien nicht gerade ein Land, das sich einer langen Tradition demokratischer und friedlicher Problemlösungen rühmen könnte. Ja, der 27. Juni wird sich vom Vortag nicht wesentlich unterscheiden. Dennoch wäre es unvorsichtig, die Ereignisse des 26. Juni, wie sehr sie auch immer eher symbolischer Natur sein werden, zu unterschätzen.

Wenn man von den „tausendjährigen Träumen“ und ähnlichem nationalistischen Kitsch absieht — leider gibt es davon eine ganze Menge —, ist die Unabhängigkeitserklärung ein Schritt zur Komplettierung des slowenischen Nationalbewußtseins — etwas, was der jetzigen Generation vielleicht tatsächlich nottut. Die nach 1945 aus Angst vor der Zukunft zusammengerückten Nationen wollen sich jetzt, wo es keine äußere Gefahr mehr gibt, ausleben, ihre Selbstbestätigung finden.

Was immer aus dem langsamen Prozeß werden wird, es wird auf jeden Fall wieder eine Zwischenstufe sein — denn die große Perspektive Europas (und der Welt, in weiterer Ferne freilich) ist ja die freie Gemeinschaft freier Völker. Slavko Fras

Der Autor ist Chefredakteur der in Ljubljana erscheinenden Zeitschrift 'Nasi Razgledi‘ (Unsere Rundschau). Der Kommentar erschien gestern im österreichischen 'Standard‘.