: Das Wunder vom Old Bailey
Überraschender Freispruch für zwei Fluchthelfer, die vor 25 Jahren den sowjetischen Doppelagenten Blake aus einem Londoner Gefängnis befreiten/ Geschworene vereiteln Rache des Geheimdienstes ■ Aus London Ralf Sotscheck
Der Prozeß gegen zwei Veteranen der britischen Friedensbewegung, die vor 25 Jahren den Doppelagenten George Blake aus dem Londoner Gefängnis Wormwood Scrubs befreit und nach Ost-Berlin geschmuggelt hatten, endete am Mittwoch mit einer Sensation: Michael Randle (57) und Patrick Pottle (52) wurden von den Geschworenen einstimmig in allen Anklagepunkten freigesprochen. Und das, obwohl beide die ihnen zur Last gelegten Taten keineswegs bestritten. Die Angeklagten argumentierten jedoch, daß sie aus humanitären Beweggründen gehandelt hätten, da das Urteil gegen Blake — eine Gefängnisstrafe von 42 Jahren — „bösartig und barbarisch“ gewesen sei.
Mit dem Freispruch setzten sich die Geschworenen über die ausdrückliche Anweisung Richter Alliotts hinweg, der unverblümt einen Schuldspruch gefordert hatte. Während Freunde und Verwandte im Gerichtssaal 1 des Old Bailey — demselben Raum, in dem Blake damals verurteilt worden war — das Urteil mit stehenden Ovationen feierten, forderte der Richter die Geschworenen mit versteinerter Miene auf, ihre Plätze unverzüglich zu räumen. Der gebürtige Niederländer George Blake arbeitete im Zweiten Weltkrieg im holländischen Widerstand gegen die Nazis. Später trat er der britischen Marine bei und wurde wegen seiner Sprachkenntnisse vom Geheimdienst angeworben. Aufgrund seiner Erfahrungen mit dem faschistischen Syngman-Rhee-Regime in Korea wurde Blake in den fünfziger Jahren zum Doppelagenten für den KGB. Er leitete unter anderem ein Gemeinschaftsprojekt des britischen Geheimdienstes mit dem CIA: den Bau eines Tunnels von West-Berlin bis unter die sowjetische Telefonzentrale in der DDR. Der KGB war von Anfang an eingeweiht und fütterte die westlichen Maulwürfe monatelang mit Falschinformationen.
1960 wurde Blake durch einen polnischen Überläufer enttarnt. Im Gefängnis lernte er Randle und Pottle kennen, die dort eine 18monatige Haftstrafe für die Besetzung des US-Luftwaffenstützpunkts Whethersfield absaßen. Beide waren Gründungsmitglieder von Bertrand Russells „Committee of 100“. Nach ihrer Freilassung faßten sie mit dem inzwischen verstorbenen Iren Sean Bourke den simplen Plan, Blake mit einer Strickleiter über die Knastmauer zu helfen. Nach einer Odyssee durch verschiedene Verstecke in London schmuggelten Michael Randle, seine Frau Anne und ihre beiden Kinder den meistgesuchten Mann Großbritanniens in einem umgebauten Wohnmobil nach Ost-Berlin — eine Methode, die Randle in den siebziger Jahren erneut anwandte, um Dissidentenmaterial in die CSSR zu transportieren, was der Abgeordnete des Bürgerforums, Jan Kavan, dem Old Bailey bestätigte.
Der britische Geheimdienst wußte bereits seit 1970 über Pottles und Randles Beteiligung an der Flucht Bescheid, da Bourke, dessen Auslieferung die irischen Behörden verweigerten, in seinem Buch die Identität der beiden nur notdürftig verschleiert hatte. Dennoch unternahm man nichts. Pottle sagte am Mittwoch: „Es war weitaus weniger peinlich, die Öffentlichkeit und die US-amerikanischen Verbündeten in dem Glauben zu lassen, daß es sich bei Blakes Flucht um eine aufwendige KGB-Aktion gehandelt hätte.“
Auch als die britische Presse 1987 den Fall aufgriff und neben Pottle und Randle 14 weitere Leute, darunter die Schauspielerin Vanessa Redgrave, der Mittäterschaft bezichtigte, blieb die Staatsanwaltschaft untätig. Erst nachdem die beiden zwei Jahre später in ihrem Buch „The Blake Escape“ die amateurhafte, aber abenteuerliche Aktion geschildert hatten und die rechte „Freedom Association“ sowie 116 Tory-Abgeordnete daraufhin die Strafverfolgung forderten, kam es zur Anklage. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, daß der späte Prozeß wegen der „Schwere des Verbrechens“ gerechtfertigt sei. Gleichzeitig bot sie den Angeklagten jedoch ein Geschäft an: Würden sie sich schuldig bekennen, den Agenten versteckt zu haben, so sollten die Hauptanklagepunkte fallengelassen werden. Darauf ließen sich Randle und Pottle jedoch nicht ein. Sie verzichteten vor Gericht auf einen Anwalt und stützten sich bei ihrer Verteidigung, die von Juristen als „beeindruckendstes Plädoyer seit Jahren“ bezeichnet wurde, vor allem auf das Argument, daß die Tat notwendig gewesen sei, um ein größeres Verbrechen — nämlich das unmenschliche Urteil gegen Blake — zu verhindern. Richter Alliott verwarf diesen Punkt zwar, doch die Geschworenen ließen sich dadurch nicht einschüchtern. Der 68jährige Blake, der heute in Moskau lebt, war als Entlastungszeuge per Videoaufzeichnung aufgetreten. Am Mittwoch abend übermittelte er telefonisch seine Glückwünsche: „Ich kann meine Freude über das Urteil kaum in Worte fassen.“ Pottle und Randle, die sich bereits auf einen längeren Gefängnisaufenthalt eingerichtet hatten, sangen ein Loblied auf die Schwurgerichte: „Der gesunde Menschenverstand hat gesiegt. Wir würden heute genauso wie damals handeln.“ Der Tory-Abgeordnete Graham Riddick bezeichnete das Urteil als „pervers“. Michael Randle sagte zur taz: „Die Geschworenen haben eine Gedenktafel verdient.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen