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Der große „Dissenter“ nimmt Abschied

Mit dem Ausscheiden des liberalen Obersten Richters Thurgood Marshall aus dem Obersten Gerichtshof der USA geht auch die liberale Ära in der Verfassungsgeschichte des Landes zu Ende  ■ Aus Washington Rolf Paasch

Für die Liberalen ist sein Rücktritt ein Schock, die Konservativen sind dagegen froh, daß sie den ewigen „Dissenter“ und Verfasser von Minderheitsmeinungen im Supreme Court endlich los sind. So verschieden auch die Reaktionen auf den überraschenden Abschied des 82jährigen Thurgood Marshall von den Bänken des Obersten Gerichtshofs ausfallen, in einem sind sich seine Anhänger und Gegner einig: Wohl keine heute lebende Person hat so viel für die Etablierung der Bürgerrechte in den USA getan wie der 1908 in Baltimore geborene Enkel eines Sklaven und bisher einzige schwarze Richter in der Geschichte des Supreme Court.

Schon bei seiner Ernennung zum Obersten Richter durch Präsident Lyndon B. Johnson im Jahr 1967 galt Thurgood Marshall als Held der Bürgerrechtsbewegung. Als Mitbegründer und Anwalt des Verteidigungsfonds der „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP) gewann Marshall 29 von 32 Verfahren, die er in seinem Eintreten für die Rechte der Schwarzen vor den Obersten Gerichtshof brachte. Mit seinem Sieg in dem historischen Prozeß von 1954 über die Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen brachte Marshall das Supreme Court dazu, die bis dahin geltende rassistische Verfassungsdoktrin des „getrennt aber gleich“ durch eine Heranziehung des 14. Verfassungszusatzes zu ergänzen, der allen US-Bürgern den gleichen Schutz vor der Verfassung gewährt. Erst damit, so ein Jurist, habe Marshall die US-Verfassung ins 20. Jahrhundert gebracht.

Als Verfassungsrichter war Marshall zunächst Teil der liberalen Mehrheit des sogenannten „Warren Courts“ gewesen, ehe die Ernennungspolitik der Präsidenten Nixon und Ford für einen ersten Rechtsruck des Gerichtshofes sorgten. Unter dem von Ronald Reagan zum Vorsitzendes des Supreme Court ernannten William Rehnquist begann dann die konservative Gegenrevolution gegen die von Marshall und anderen erfochtenen Siege der liberalen Bürgerrechtsbewegung. Es gilt als sicher, daß George Bush Marshall durch einen weiteren konservativen Richter ersetzen wird. Ob dies wieder ein Schwarzer sein wird, bleibt abzuwarten. In jedem Fall scheint die Aufhebung der seit 1973 verfassungsrechtlich garantierten Abtreibungsfreiheit durch den Obersten Gerichtshof jetzt nur noch eine Frage der Zeit zu sein. In der Rechtsprechung hat die konservative Gegenrevolution der Reagan-Jahre gerade erst begonnen. Der Weg im Kampf um die Verteidigung und Anerkennung von Bürgerrechten wird Frauen, Schwarze und Minderheiten in Zukunft nicht mehr zum Supreme Court, sondern zum gegenüberliegenden Kapitol führen müssen.

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