: Eine ganze Generation wird ausrangiert
Mit dem 1.Juli endet in den neuen Ländern die Übergangsregelung Kurzarbeit Null und Warteschleife/ Die Generation der 45- bis 55jährigen hat auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt keine Chance mehr/ Depressionen machen sich breit ■ Aus Bischofswerda Susa Mira
Verloren und fremd sitzt Irmgard Gebauer zwischen exakt drapierten Sofakissen in ihrem picobello aufgeräumten kleinen Wohnzimmer. Der Geruch von frischer Farbe, Tapetenkleister, Reinigungsmittel und Bohnerwachs füllt den Raum aus. Irmgard Gebauer ist 54 Jahre, von Beruf Maschinenschlosserin und arbeitete 26 Jahre im Mähdrescherwerk in Bischofswerda/Sachsen. Seit September 1990 ist sie auf Kurzarbeit Null gesetzt, ab 1.Juli wird sie arbeitslos sein. Auf meine Frage, wie sie sich fühlt, antwortet sie nicht. Statt dessen legt sie unentwegt die Enden ihrer blauen Nylonschürze übereinander und streift sie glatt. Nur einen Blick wirft sie mir zu, flüchtig, aber eindringlich, der zu verstehen gibt, daß eine überflüssigere Frage derzeit kaum zu stellen ist.
Dann platzt es aus ihr heraus: Sie habe es satt, jeden Tag mit dem Staubwedel durch die Wohnung zu rennen. Dennoch weiß Irmgard Gebauer, daß ihr wohl in ihrem Alter nichts anderes übrigbleiben wird. Wochenlang hat sie am Frühstückstisch die Seiten mit Stellenangeboten in der 'Sächsischen Zeitung‘ studiert, in der Hoffnung, eine Annonce zu finden, die die über 35jährigen nicht von vornherein ausgrenzt. Aber erfolglos. Nun hat es Irmgard Gebauer aufgegeben. Die Seiten mit den Stellenangeboten werden überblättert. Auch auf dem Arbeitsamt bekam sie es oft genug zu hören: Die Möglichkeit einer Arbeitsplatzvermittlung bestünde für sie nicht. Mittlerweile sei sie aber auch bereit — schweren Herzens zwar — zu Hause zu bleiben, wenn nur der Mann wieder etwas zu tun hätte. Eine Frau, so urteilt Irmgard Gebauer, fände im Haushalt ja immer eine Beschäftigung, aber für ihn sei die Verurteilung zum Nichtstun unerträglich.
Hans-Dieter Gebauer, 54 Jahre, Steinmetz bei Elbe-Naturstein Dresden, ist wie seine Frau seit September letzten Jahres in Kurzarbeit Null. Schweigend steht er im Türrahmen. Zehn Monate zu Hause haben ihn verbittert. Er legt mir die jüngste Ausgabe der 'Sächsischen Zeitung‘ vor. „Sachsen — Land des Freitodes“ steht da, und Hans-Dieter Gebauer fügt hinzu: „Man wird förmlich dazu getrieben, sich die Schlinge um den Hals zu legen.“ Die Treuhand ist für ihn ein rotes Tuch, und deren Mitarbeiter sind für ihn Verbrecher. „Keiner von denen geht mit 55 in den Altersübergang. Und die Damen und Herren von der Bundesregierung sind doch auch fast alle im Vorruhestandsalter.“ Daß er die nächsten zwanzig, dreißig Jahre mit Rasenmähen, Heckenschneiden und Straßenkehren zubringen soll, ist für ihn nicht begreifbar. „Daß können die da oben nicht wirklich wollen, daß ich mich mit 54 zur Ruhe setze und ein Rentnerdasein friste.“
Zwei Straßen weiter in Bischofswerda sitzt Brunhilde Pietrobelli und schüttelt unablässig den Kopf. Seit Tagen fragt sie sich, warum Millionen vorhanden sind, um Leute dafür zu bezahlen, daß sie unter keinen Umständen arbeiteten, aber für Investitionen in neue Arbeitsplätze kein Geld da ist. „Das ist doch schizophren.“ Aber eigentlich möchte sie diese Absurdität auch gar nicht verstehen. Ebensowenig wie sie das Argument für sich gelten lassen will, daß sie mit 51 bereits zu alt sei. Doch die Realität, das hat auch sie erfahren müssen, ist derzeit eine andere. Ihre Bewerbungen wurden mit dem stereotypen Satz beantwortet, daß man sich anders entschieden habe. Auf dem Arbeitsamt riet man ihr von einer Umschulung ab. Begründung: In ihrem Alter lohne sich das nicht mehr. Aber die Teilnahme an einem Fortbildungslehrgang fürs Kaufmännische sei mit ihrem Alter noch möglich. Wenn man wie sie 23 Jahre tagtäglich zur Arbeit gegangen sei, sei es halt schwer vorstellbar, daß das Leben auch anders ablaufen könne. „Vielleicht läßt es sich ja wirklich auch ganz anders leben.“ Überzeugt ist Brunhilde Pietrobelli von dieser Erkenntnis jedoch nicht. Ihr Blick hofft auf Widerspruch...
Irmgard Gebauer dagegen kann die Energie für eine Fortbildung oder Umschulung nicht mehr aufbringen. Dafür fühle sie sich dann doch zu alt. Daß sie sich wenigstens pro forma anmelden muß, damit sie nicht als arbeitslos registriert wird, davon kann Jörg Kaschel, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender im Mähdrescherwerk Bischofswerda, sie nur mühsam überzeugen. Denn versäume sie die Anmeldung, würde sie zwar zwei Jahre Arbeitslosengeld erhalten, könne danach aber nicht in den Vorruhestand übernommen werden. Das setzt nämlich voraus, nicht länger als ein halbes Jahr vorher arbeitslos gewesen zu sein. Aber auch um die Vorruhestandsregelung in den fünf neuen Bundesländern wahrzunehmen, kommt sie um einen solchen Lehrgang nicht herum. Denn hier gilt die gleiche Regelung. Irmgard Gebauer wird erst Ende 1992 55 Jahre alt. Von diesen juristischen Feinheiten fühlt sich Irmgard Gebauer schlichtweg überfordert. „Wir haben das doch alles nicht gelernt.“
Jörg Kaschel dauert die Hilflosigkeit besonders vieler älterer Kollegen. Zwar hat er Verständnis für deren Unbeholfenheit, doch kann er den Klang des Vorwurfs in seiner Stimme nicht unterdrücken. Besonders die älteren Mitarbeiter hätten den Ernst der Lage bisher nicht begreifen wollen, als sie um die Osterfeiertage die Kündigung in ihren Briefkästen fanden. Als Rote seien die Leute vom Betriebsrat und der Gewerkschaft beschimpft worden, als sie im Februar auf dem Bischofswerdaer Marktplatz mit einer Kundgebung darauf aufmerksam machen wollten, daß am 1.Juli 2.200 Mitarbeiter des Mähdrescherwerkes auf der Straße sitzen werden. Mit 90 Prozent Kurzarbeitergeld wähnten sich jedoch viele erst einmal in Sicherheit. Die realistischen Analysen wurden von nicht wenigen als Schwarzmalerei abgetan. Die unglaubliche Naivität, Obrigkeitsgläubigkeit und Unbedarftheit, mit der viele des Mähdrescherwerkes auf die drohende Arbeitslosigkeit reagierten, stimmen Jörg Kaschel äußerst nachdenklich.
Heinz Gneuß, 54 Jahre, seit 1965 im Betrieb beschäftigt, zog es während seiner zehnmonatigen Kurzarbeiterzeit vor, sich besser nicht um einen neuen Job zu kümmern. Er glaubte, daß ihm bei Neueinstellung seine Abfindung verlorenginge. Auch auf dem Arbeitsamt ist er in dieser Zeit kein einziges Mal gewesen. Doch jetzt, da die letzte Tapetenbahn geklebt, alle Fenster gestrichen, die Türen neugebeizt, Boden und Keller entrümpelt sind, richten sich Angst, Unsicherheit und Verzweiflung mit wildem Haß gegen alle, die in irgendeiner Leitungsfunktion sind. „Die sollen mich mal Rechtsstaat spielen lassen. Ich würde sie alle umlegen“, bekennt Heinz Gneuß unverhohlen.
Die Perspektive gerade für die 45- bis 55jährigen, aus dem Arbeitsleben mit dem 1.Juli 1991 für immer ausgegrenzt zu werden, läßt manchen auch zusammenbrechen. Gottfried Böhme, 55 Jahre, von Beruf Schlosser und viele Jahre als Abteilungsleiter in der Grundfondwirtschaft des Mähdrescherwerkes Bischofswerda tätig, erlitt auf dem Arbeitsamt einen Schwächeanfall, als er sich nach seinen Zukunftsaussichten erkundigte: Drei Jahre Arbeitslosengeld würde er beziehen. Danach wäre er ein Sozialfall. Nach langem Überlegen hat er sich für den Vorruhestand entschieden. Ja, man habe ihn kleingekriegt, und er habe nicht mehr die Kraft, neu anzufangen. Die Tage und Wochen, in denen er nächtelang nicht schlafen konnte, nachts aufschreckte, will er nicht noch einmal durchleben müssen. Grausam sei es gewesen, sagt Gottfried Böhme, ein Abstieg in die Hölle. „Wenn ich schon weggeworfen wurde, versuche ich jetzt, mich nicht weggeworfen zu fühlen. Mehr bleibt mir nicht mehr.“
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