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Ich hasse Schauspiel

Das „Theater der Welt“ in Essen wurde am Wochenende eröffnet  ■ Von Sabine Seifert

Die Ruhrfestspiele in Recklinghausen sind nicht ganz zu Ende, das Theater der Welt in Essen beginnt. Es beginnt zäh, nach Strich und Faden verregnet. Die Diskussionen im Theaterzelt, die Presse und Publikum Gelegenheit bieten, mit den angereisten Truppen ins Gespräch zu kommen, sind schlecht besucht. Schnatternd schlagen sich die wenigen Besucher die klammen Sommerfummel um den Körper. Ein Cognac hilft mehr. Peter Schumann, Gründervater des legendären Bread and Puppet Theatre aus den USA, zieht gerade mal eine Handvoll Leute an.

„Laßt uns anfangen, ich muß Brot backen“, meint er unwirsch und genehmigt sich und den anderen eine Zigarrenlänge. Immerhin, die Zigarre ist dick. Schumanns Haare, grau und wirr, fallen halblang über ein Auge. Der Mann ist eine Autorität. Seit fast dreißig Jahren existiert das Bread and Puppet Theatre: „Ich treffe eine Menge Leute, die mir erzählen, wie sie ihre Mutter auf dem Arm in eines meiner Stücke mitgenommen haben.“ Heute sind es die Kinder dieser Kinder, die am Abend seine Vorstellung besuchen. In Essen durften Schüler und Rentner bei der jüngsten Bread-and-Puppet-Produktion Columbus — Die neue Weltordnung mitspielen. Das ist exemplarisch für Schumanns Theaterarbeit: nicht einfach mit einer Produktion angereist zu kommen, sondern am Ort mit Laien zu arbeiten und sie in die Aufführung einzubeziehen.

Die neue Weltordnung hat zwei Teile. Teil eins wird vom Bread and Puppet Theatre allein bestritten und findet im Saal statt. Rechts auf der Bühne steht eine mechanisch bewegbare Kapelle aus Skeletten und Totenköpfen, die von unsichtbarer Hand betrieben die Trommel schlagen oder eine Papierrolle hochziehen, auf der die einzelnen Szenen angekündigt werden. Columbus, ein kleiner Mann mit blauer Samtjacke, der unter einem riesenlangen Kopf mit hübsch polierter Halbglatze verschwindet, muß dem Hof von Spanien seine Mission erklären. Die Höflinge werden durch Pappköpfe simuliert, an deren Hals sich — gelenkartig verbunden — Hände befinden. Der König, ganz aus Silberpapier, läßt sich von Columbus, der ihm eine Apfelsine anbietet, zu dessen Eroberungsfahrt überreden — süße Verführung.

Viele Requisiten des Bread and Puppet Theatre sind wiederkehrende Symbole, die alte Mythologien aufnehmen — wie die Apfelsine, die im zweiten Teil des Stücks im dürren Gestrüpp baumelt, das als Geweih einer Hirschkuh oder eines Büffels dient. Rückbezug auf die indianische Kultur Amerikas, die infolge von Columbus' Mission beinahe ausgelöscht wurde. Auch Puppen und Masken werden wieder verwendet, wundersame Kunstobjekte, von Peter Schumann entworfen und hergestellt. Die Ausgedienten stehen heute im umgebauten Heuschober im kalifornischen Vermont, wo sich die Theaterfamilie und Kommune niedergelassen hat.

Sie selbst nennen ihr Museum einen Zoo, voll von Dämonen, die weiterhin durch die Wirklichkeit spuken. Das Bread and Puppet Theatre ist ein Objekttheater, inspiriert von der Tradition des Karnevals, der Maskenumzüge. Darüber läßt sich vortrefflich philosophieren. Peter Schumann mag kein Theater, richtiges Theater, „ich hasse Schauspiel“. Er greift Volksmythologien auf, greift — wie im zweiten Teil von Columbus — ein. Ein Darsteller berichtet von der Situation der Indianer an der kanadischen St.James Bay, wo ein gigantisches Wasserkraftwerk errichtet werden soll. Theater und Politik greifen bestenfalls ineinander, wenn die Truppe mit ihren Masken zu einer Parade aufbricht, wie sie es früher bei Anti-Vietnam-Demonstrationen tat. In Essen blieben die Stadtväter von Uncle Sam, der auf drei Meter hohen Stelzen durch die Innenstadt hüpfte, ungerührt. Die Beerdigung von Kardinal Hengsbach ging vor. Columbus II mußte auf den Abend verlegt werden.

Wie Tag und Nacht unterscheidet sich das Bread and Puppet Theatre von Royal de Luxe, einer Truppe aus Frankreich, die ebenfalls Straßentheater macht. Das Bread and Puppet ist schlicht und handgemacht, mit seiner rituellen Brotspeisung am Ende des Spektakels lehrt es eine fast religiöse Demut, La véritable Histoire de France von Royal de Luxe ist dagegen technisch aufwendig, eine spektakuläre Produktion, eine Show der Special effects. Auf dem Marktplatz der Margarethenhöhe, einer hübschen Gartenvorstadt von Essen, einst von Margarethe Krupp gestiftet, hat die Gruppe ein tonnenschweres großes Bilderbuch aufgestellt, ein Geschichtsalbum, dessen Seiten nur mittels Hydraulik umgeblättert werden können. Seite per Seite — von Vercingetorix bis Verdun — entfalten die Geschichtskapitel ein fulminantes Eigenleben: da rotiert die Heilige Johanna am Spieß, brennen die Zwiebeltürme von Moskau, die Napoleon in Brand gesetzt hat, explodieren riesige Lehmbrocken, wenn sich deutsche und französische Truppen den Bodenkampf liefern. „Straßentheater ist Kampf“, sagt Pierre Orefice, der Produzent der Gruppe, die mit der Schau demnächst nach Berlin kommt; der Marktplatz gleicht hinterher einem Schlachtfeld. Einen Kampf zumindest hat Royal de Luxe verloren: Die ungerührten Stadtväter verwahrten verboten den gen Himmel steigenden Ballon Montgolfires — er könne Luftkorridor und Autobahnverkehr beeinträchtigen. Royal de Luxe lenkte nicht ein und sagte die zweite Vorstellung ab.

„Ist es nicht die Aufgabe eines solchen Festivals, das weltweit beste, schönste, aber auch schwierigste, störendste Theater zusammenzuholen“, fragt Ivan Nagel bei einer Podiumsdiskussion zum Motto des diesjährigen Festivals — „Wege in die Zukunft“. Nagel hat selbst einmal vor Jahren das Theater der Welt ausgerichtet. „Das internationale Theater gibt es nicht“, sagt er, „aber es gibt das nationale Theater. Daraus entsteht die Aufgabe zur Bereitschaft und Fähigkeit, von Fremdem zu lernen.“

Und was ist nationales Theater? Das jugoslawische Theater hat aufgehört zu existieren. Das Wort Jugoslawien auf dem Ankündigungsplakat für das Theater Mladinsko/„Der rote Pilot“ ist durchgestrichen. Das Theater stammt aus Ljubljana/Slowenien, der „Rote Pilot“ — alias Dragan Zivadinov — ist Bestandteil der Künstlerguppe Neue Slowenische Kunst in Laibach, die dort politisch-soziale Gesamtkunst und künstlerischen Totalismus propagiert.

Zenit ist eine immerhin etwas ungewöhnliche Auftragsarbeit des städtischen Theaters Mladinsko. Spielort ist ein Waggon auf dem Güterbahnhof Essens, wo man sich zu nächtlicher Stunde einfinden muß. Posten in Lederkleidung schieben Wache, drängen die Besucher in eine Reihe und führen sie einzeln in den Güterwaggon. Nach dem letzten Besucher schließen sie die Tür, das Publikum steht eingeschlossen im Dunkeln. Zehn Minuten lang. Ein Lob den Rauchern, die mit Feuerzeugen unwesentlich zur Erhellung der Lage beitragen können. Sie klärt sich weiter geringfügig, als sich eine Tür zum Rest des Waggons öffnet und die Zuschauer in einen schmalen Gang geführt werden. Rechts und links oberhalb unserer Köpfe befinden sich schmale Spielrampen, über die hin und wieder ein Kran rollen wird. Da heißt es Kopf einziehen.

Zenit beruht auf T. S. Elliots frühem Drama Mord im Dom, das die Geschichte von Thomas Becket erzählt, Erzbischof von Canterbury, der sich nach Jahren der Emigration mit dem König versöhnt und zurückkehrt. Seine Priester ahnen die Gefahr, die ihm weiterhin von der Krone droht. Becket läßt den Dom wieder öffnen, vier betrunkene Ritter drängen hinein und bringen ihn um. Ein Lob dem Märtyrer.

Wie eng sich die Inszenierung an den Text hält, läßt sich für deutsche Zuschauer nicht so schnell nachprüfen. Gespielt wird im Spagat über den Zuschauerköpfen; Stalin-Schergen, Ordensschwestern donnern über uns hinweg, ziehen sich Tonbandsalat oder Schlangenhäute aus dem Mund, verbreiten Angst und Ekel. Die Gruppe arbeitet bewußt mit an den Faschismus wie Stalinismus gemahnenden Symbolen. „Das ist keine Nostalgie, sondern Warnung“, meint erklärend ein Mitarbeiter des Mladinsko-Theaters am anderen Morgen, „es simuliert unsere Angst vor Institutionen, egal welcher.“

Am Ende zielt ein rot illuminierter Faden auf das Herz des Märtyrers, Väterchen Stalin zieht daran auf der anderen Seite. Die brachiale Musik der Gruppe De-Stroj-Tank hat fast unerträgliche Lautstärke erreicht, ein Sänger springt ins Fadenkreuz und hebt die Theatersituation auf. Nebelschwaden legen sich über das Publikum, eine Tür öffnet sich nach hinten. Der Zuschauer wird aus dem Waggontheater geworfen, er steht plötzlich allein im Dunkel. Der Spuk ist vorbei. Einige Zuschauer wandern hilflos vor den Waggon, weil sie applaudieren möchten. Außer ein paar Ledermännern zeigt sich keiner der Schauspieler.

Was lernen wir vom Fremden? Daß es woanders einen anderen Umgang mit deutscher Geschichte gibt. Angstmache? „Das Stück spiegelt unsere Erfahrung mit der Repression von Institutionen wider, das, was wir zur Zeit erleben,“ sagt ein Theatermitarbeiter. Dagegen läßt sich nicht viel sagen, gegen den Rest einiges. Aber der „Rote Pilot“ hat sich längst abgeseilt.

Das Theater der Welt dauert noch bis zum 14. Juli.

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