: Die permanente Demonstration
„Verkaufsdemo“ des Neuen Forums in Dresden als Protest gegen die Ausgrenzung einheimischer Produzenten/ „Was hier passiert, hat mit freier Marktwirtschaft nichts zu tun“/ Eine Notlösung ■ Aus Dresden Detlef Krell
Am Taschenstand duftet es nach frischen Hähnchen. Tropische Dickblätter schaukeln im eisigen, sächsischen Wind. Käse aus Radeberg, Säfte aus dem Lockwitzgrund, Zahnpasta aus Dresden neben Balsam, Bier und neuen Besen. „Wundern Sie sich nicht, wenn der vom Supermarkt so vertraute Geschmack von Stickoxid und Konservierungsstoffen ausbleibt“, spottet Fleischer Trepte und hält die Sachsenwerbung hoch. Die Leute lassen sich ihre Taschen vollpacken; kleiner Plausch am Stand, Nachbars sind auch da, und die Thüringer Bratwurst schmeckt wieder wie bei Muttern. Seit Stunden schüttet es in Bächen, aber zwischen Hygienemuseum und Stadion herrscht ein kunterbuntes Markttreiben.
Kein Markt, sondern eine „Verkaufsdemo“ des Neuen Forums, klärt ein Transparent auf. Werner Schmidt verteilt Flugblätter. Als sich wenige Tage nach der Währungsunion die einheimischen Erzeugnisse auf Halde zu türmen begannen und es so aussah, als ob kein Mensch mehr einen Westgroschen für Ostwaren ausgeben wollte, lud das Neue Forum demonstrativ sächsische Firmen und HändlerInnen ein, ihre Produkte selber anzubieten unabhängig vom gewendeten Mangel und auf einem Flecken, der den DresdnerInnen von den Volksfesten der vergangenen Jahre noch als Marktplatz in Erinnerung war. Am 20. Juli 1990, einem Freitag, lief erstmal die „Verkaufsdemo“ des Neuen Forums als ein Protest gegen die Ausgrenzung einheimischer Produzenten aus der frisch importierten Marktwirtschaft. Es kamen etwa 30 HändlerInnen und 300 Leute zum Schauen und Laufen. Begeistert waren die DemonstrantInnen, unbeweglich blieben die Handelsketten, also rief das Neue Forum auch für die nächsten Freitage zur „Verkaufsdemo“ auf. Es brauchte nicht lange zu rufen. Bald kamen bis 200 HändlerInnen und Firmen aus Dresden und der Lausitz, aus dem Erzgebirge und sogar aus Chemnitz, Plauen, Erfurt, Halle, Magdeburg und Cottbus. Für Tausende DresdnerInnen wurde die „Verkaufsdemo“ eine Stamm-Adresse beim Wochenendeinkauf. „Ich gehe nur noch hier einkaufen“, versichert ein Rentner den Männern vom Neuen Forum, „alles, was ich brauche, bekomme ich, zu vernünftigen Preisen. Und hier kann ich mich noch mit den Leuten unterhalten, die bringen sich Zeit mit.“ Schlangen, vertraute Gebilde für die Leute im Osten, warten geduldig vor den Wurst- und Fleischständen. Immer wieder ältere Leute blättern die Konfektionsware auf dem Stand durch und decken sich mit Hosen, Kleidern, Blusen ein. Preise lassen ahnen, daß die Textilbetriebe, Gärtnereien, die privatisierten, ehemalige VEB-Teile ums Überleben hier stehen. „Macht Ihr weiter?“ erkundigt sich besorgt ein Gemüsehändler aus seinem Lieferwagen heraus beim Neuen Forum. „Na klar, wir geben nicht auf!“
Das Marktamt der Dresdner Stadtverwaltung läuft seit Monaten Sturm gegen die Demo. Wiederholt kündigt das Ordnungsamt an, Ordnung durch „Beseitigen“ zu schaffen. Vor einer Woche teilte es dem Neuen Forum mit, daß die Verkaufsdemo nur noch einmal am 28. Juni genehmigt werde. Das Gelände werde als Parkplatz gebraucht, und die HändlerInnen könnten sich um einen Stand auf dem neuen „Dresdner Jahrmarkt“ bewerben. Den wolle die Stadt am ersten Juli-Sonnabend eröffnen, für alle Interessenten aus Ost und West. „Erst muß der neue Markt beweisen, daß er besser ist als unserer“, entgegnet Werner Schmidt. Mit der Verkaufsdemo soll keine Enklave für DDR-Nostalgiker entstehen. Vielmehr fordert die BürgerInnenbewegung von den Politikern des Landes Sachsen wirksame Taten, damit sächsische Erzeugnisse in ausreichender Menge in die Läden kommen. Der Andrang auf der Verkaufsdemo gibt den Anbietern allemal ein überzeugendes Qualitätsurteil.
Schimpfend, einen Zettel in der Hand, kommt ETO-Chef Guido Fournés zur Demo-Leitung des Neuen Forums. Die kleine Firma, Herstellerin von Zahnpasta und kosmetischen Erzeugnissen, bekam eine Absage für den „Dresdner Jahrmarkt“. Unterzeichnet von Marktamtsleiterin Christine Pirkl, heißt es darin trocken: „Der zur Verfügung stehende Platz reicht nicht aus...“ Nur 90 Stände kann der neue Markt aufnehmen. ETO bietet seine Etodent- Pasta, die Tube für 70 Pfennig, auf einen Campingtisch an. Nur ein Quadratmeter für die 6-Leute-Firma. „Wir sind von Anfang an dabei“, berichtet der Inhaber, „die Leute kamen zu uns und sagten: Gut, daß es euch noch gibt. Wir sind jetzt bei Spar auf der Liste und mit Tengelmann im Gespräch, doch das reicht nicht, um zu überleben.“ Fournés war VEB-Direktor, bis er vor zehn Jahren diesen Betrieb übernahm, privat. „Man konnte leben, ist dort nicht irgendwie unterdrückt worden. Aber was jetzt hier passiert, das hat doch mit freier Marktwirtschaft nichts zu tun, wenn die Handelsketten alle gesperrt sind.“ Von mehreren Ketten bekam er gar keine Antwort. „Ich schreibe an Biedenkopf und frage, ob das die Unterstützung ist, die er einem Unternehmer geben will.“
„Dieser sogenannte Dresdner Jahrmarkt hatte sich hier herumgesprochen, offiziell hörten wir nie davon“, empört sich Frau Thost. Obwohl ihr die Gänse unter der Hand weggekauft werden, als stünde Weihnachten vor der Tür, macht sie sich nicht mehr viel Hoffnungen für ein Überleben der Firma. Nebenan bietet eine Bäuerin Gemüse und Blumen an. „Wir sind nur drei Leute. Was sollen wir mit einen Marktstand über die ganze Woche. Und Standgebühren um die 1.000DM im Monat, die können wir uns nicht leisten.“
Gleich fünf Kisten mit Kindernahrung kauft das Ehepaar Köckritz bei „Ackermanns Haus“. Über 150 Kilometer aus dem Vogtland herangerollt sind vier KollegInnen mit 17 Sorten Säften und zwölf Sorten Kindernahrung, die es in keinem Dresdner Supermarkt zu kaufen gibt. „Eltern erzählen uns, daß ihre Babies von den Westsäften Ausschlag und Durchfall bekommen. Sie freuen sich, daß es unsere Kina-Sortimente noch gibt. Und wir sind nicht teurer als die Konkurrenz.“ 140 Beschäftigte hat der Betrieb in Ellenfeld noch, berichtet Ute Weidlich. In der Region ist die Textilindustrie längst zusammengebrochen. „Daß es für uns Frauen so schlimm kommt, damit habe ich nicht gerechnet.“
Werner Schmidt ist sich sicher, daß die HändlerInnen vor dem Drohgebaren aus dem Rathaus nicht zurückschrecken werden. „Die Verkaufsdemo ist eine Notlösung. Erst müßte die Not beseitigt werden, dann hätte sich unsere Aktion überlebt.“ Das Ordnungsamt führt ins Feld, daß es dem Neuen Forum angeboten habe, den neuen Markt zu leiten. „Aber wir haben keine Marketing- Experten“, entgegnet Werner Schmidt. „Wir haben nichts gegen marktwirtschaftliche Lösungen, wenn sie in Sachsen Arbeitsplätze schaffen. Die Verkaufsdemo schafft Arbeitsplätze, unkonventionell.“
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