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Schultheiss & Sony

■ Turrinis Marktwirtschaftsdrama »Die Minderleister« zum Jahrestag der Währungsunion in den Kammerspielen

Die Zeiten ändern sich; und die Bierflaschen ändern sich in ihnen. Zu Beginn der Aufführung von Peter Turrinis Stahlarbeiterpassion Die Minderleister, die am Sonntagabend in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Premiere hatte, ist es eine Flasche Berliner Bürgerbräu, deren Scherben über die Bühne spritzen. William Shakespeare, der Werksbibliothekar des Stahlbetriebs, zerschmettert sie an seinem Schädel, nachdem er sie geleert hat. Er verzieht keine Mine dabei: Nach einer Kopfverletzung im Krieg wurde ihm statt seiner Schädeldecke, deren Splitter ihm noch im Hirn stecken, eine Eisenplatte eingesetzt. Und die hält was aus.

Am Ende der Aufführung wiederholt sich die Szene. Aber diesmal ist es eine Flasche Beck's Bier, die sich der Bibliothekar über den notdürftig geflickten Eierkopf haut. Was von Anfang an trostlos war, ist es immer noch; daran hat sich nichts geändert. Aber am Anfang gab es in den Köpfen der Stahlarbeiter so etwas wie die Vorstellung von einem Paradies, einem Ort, wo man sich hinträumen konnte. Inzwischen ist das Paradies über sie hereingebrochen — fast unmerklich, ablesbar nur am Wechsel der Biermarken von Berliner Bürgerbräu über Schultheiss, Flensburger Pilsner bis hin zu Beck's — und sie haben gemerkt, daß es aus diesem Paradies kein Entrinnen mehr gibt, nicht einmal in den Traum — es nimmt alles in Besitz. Die Trostlosigkeit ist eine totale geworden.

Carl-Hermann Risses Inszenierung von Turrinis Minderleistern ist der Beitrag des Deutschen Theaters zum ersten Wiegenfest der Währungs- und Wirtschaftsunion. Obwohl das Stück schon 1988 uraufgeführt wurde, wirkt es manchmal so, als sei es eigens für diesen Anlaß geschrieben worden. Die Geschichte vom kreuzbraven und — der Autor will ihn so — kreuzdummen Stahlarbeiter Hans Freiberger (Axel Wandtke) und seiner treuen Frau Anna (Ulrike Krumbiegel), die lernen müssen, daß es in diesem Leben immer auf die Kleinen geht, daß noch soviel Leistungswille und noch soviel Aufopferung sie nicht davor bewahren, zu »Minderleistern« erklärt und an die Luft gesetzt zu werden, enthält alle Elemente, die den real existierenden Aufschwung Ost so unverkennbar auszeichnen: Massenentlassungen und Verschuldung, Pornoboom und Ausländerhaß, äußere Hilflosigkeit und Rachephantasien. Da sind die gutgläubigen »kleinen Leute«, im innersten Herzen grundanständig und immer geradeheraus. Und wenn sie auch mal einen jugoslawischen Pornohändler verprügeln, dann eigentlich nur deswegen, weil es ihnen an Arbeit und Geld fehlt, weil »die da oben« ihnen ihr kleines Glück zerstört haben. Da ist der zynische Arbeitsminister, und da sind nicht zuletzt die hinterlistigen und gleichzeitig neurotischen Personalchefinnen, die sich von beflissenen Inspektoren Listen von »Minderleistern« anfertigen lassen, von Arbeitern, die für eine Entlassung in Frage kommen. Christine Schorn und Volkmar Kleinert zelebrieren geradezu genüßlich die Rolle der zwanghaft dynamischen Angestellten, die ihren Opfern auf ihre Weise erklären, warum sie nun einmal nicht zählen,warum sie sich gefälligst klaglos dem Allgemeinwohl unterzuordnen haben: »Der Markt steht über den Menschen.« Und: »Jeder ist verdächtig. Jeder gehört auf die Liste.«

Durch die ganze Aufführung hindurch zieht sich ein eigenartiger Zwiespalt. Einerseits strotzt Turrinis Stück nur so vor erstarrten Vorstellungsbildern und erstarrten Personenbildern, vor Klischees, denen es sogar dort noch erliegt, wo es Brüche zeigen oder sich selbst ironisieren will. Andererseits scheinen einige dieser Klischees durch das Geschehen, das zwischen der Entstehung des Stücks und dieser Aufführung liegt, geradezu nachträglich gerechtfertigt worden zu sein: Was nach Turrinis Absicht Überzeichnung sein sollte und als solche reichlich hohl daherkommt, ist durch die Wendewirklichkeit plötzlich mit Leben ausgefüllt worden. Die Aufführung zeigt mehr als den Eingriff der Marktwirtschaft ins Privatleben, sie zeigt das Hereinbrechen des eigenen Traums von Freiheit als sozialer Katastrophe. In diesem Zusammenbruch sind die Klischees das einzige, was die Welt noch in Ordnung hält. Die Dummheit fängt dort an, wo die so geordnete Welt auf eine genauso geordnete Welt in den Köpfen der Zuschauer trifft, wo nur noch Einverständnis produziert wird. Und darin erschöpft sich die Aufführung keineswegs.

Aber sie entgeht der Gefahr auch nicht. Turrini — und vielleicht auch Risse — verkennen zuletzt grundlegend, was sie mit dem Stück erreichen. Turrinis ausdrücklicher Anspruch ist es, mit seiner Kunst etwas zu bewirken, die Zuschauer aufzurütteln. Er möchte dem Kapitalismus auf dem Theater die Wahrheit ins Gesicht schreien. Und so mutet er seinem braven Hans einen Sühnetod zu: Als er am Ende, dank ministerieller Hilfe wieder zu Arbeit gekommen, nun die »Minderleister« unter seinen früheren Kollegen ausfindig machen soll, beschließt er, von einer nachgerade übermenschlichen Regung bewegt, sich dann lieber selbst auf die Liste zu setzen. Und so marschiert er, nachdem er sich in einer opernreifen Schlußszene von all denen verabschiedet hat, die ein Teil seines Lebens waren, geradewegs in seinen Hochofen hinein. Mit sich nimmt er die Sünden von uns allen, die wir weniger opfermütig und eher kleinmütig sind, die wir, in diesem Leben verharrend, gelegentlich treten, buckeln, kratzen und stolz darauf sind, es nur gezwungenermaßen und mit äußerst schlechtem Gewissen zu tun.

Versöhnt und erleichtert begeben wir uns nach Hause und lesen auf dem Heimweg im Programmheft den Satz: »Wir danken der Firma SONY- Deutschland als Sponsoren der Videotechnik.« Erst dieser Satz ist der eigentlich letzte der Aufführung. Er ist die profundere Wahrheit über das Theater, das gespielt wird. Anselm Bühling

Die Minderleister von Peter Turrini, im Deutschen Theater (Kammerspiele). Regie: Carl-Hermann Risse, Bühnenbild und Kostüme: Eberhard Keienburg. Mit Volkmar Kleinert, Dietrich Körner, Ulrike Krumbiegel, Christine Schorn, Axel Wandtke u.a.

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