: Normal? Was ist denn hier noch normal?
Die Beschäftigten des ehemaligen Trabbi-Konzerns haben mit ihren Aktionen die Treuhand weichgeklopft/ Mit einer Qualifizierungsgesellschaft in die neue Zukunft/ Wachsamkeit und Warten auf die Entscheidung aus Berlin ■ Aus Zwickau Martin Kempe
Langsam füllt sich der Saal des Kulturhauses in der Crimmitschauer Straße, am Tor 1 der Sachsenring GmbH in Zwickau. Die Menschen kommen vom weitläufigen Werksgelände der ehemaligen Trabbi-Fabrik. Viele kommen aber auch mit dem Bus aus der Stadt zu der auf halb zwei angesetzten Betriebsversammlung. Das sind jene „auf Null“ gesetzten Kurzarbeiter, die seit Monaten ihre Arbeitsstätte nicht mehr von innen gesehen haben und nun erfahren wollen, ob es für sie doch noch eine Perspektive gibt. Es ist der „Tag eins“ nach Auslaufen des Kündigungsschutzes in der Metallindustrie. Und es ist, nachdem Betriebsrat und Industriegewerkschaft Metall am Freitag zuvor ihre Aktionen vorerst eingestellt hatten, der erste „normale“ Arbeitstag nach einer Woche voller Aufregung für die rund 6.000 Beschäftigten der Zwickauer Automobilwerke. „Normal?“, lacht ein 35jähriger Arbeiter. „Was ist denn hier noch normal?“
Es wirkt alles so ruhig in der Mittagssonne, als die Menschen sich plaudernd auf der Terrasse des Kulturhauses sammeln, bevor sie in den Saal stömen. Die Stimmung ist gelöst, wenn auch nicht euphorisch. Die letzten Meldungen aus Berlin haben Hoffnung gemacht: Die Treuhand zeige nun doch Kompromißbereitschaft in der Frage, ob sich Treuhand-Betriebe an den Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften beteiligen sollen, die derzeit überall in den neuen Ländern gegründet werden. Und die SAQ, die in Gründung begriffene „Sächsische Aufbau- und Qualifizierungsgesellschaft“, ist die einzige Hoffnung der Sachsenring-Beschäftigten, der Arbeitslosigkeit zu entrinnen.
Pünktlich um halb zwei eröffnet der Betriebsratsvorsitzende Fritz Warth die Versammlung mit einer Rechtfertigung: Schuld an den Aktionen der ehemaligen Trabbi-Arbeiter hätten jene, die ihre Versprechungen nicht gehalten hätten. Ministerpräsident Biedenkopf zum Beispiel: Er habe im April, als der letzte Trabbi vom Band lief, beteuert, die Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft im Zwickauer Werk werde vorbildlich für die gesamte ehemalige DDR werden. Aber schuld ist vor allem die Treuhand, die sich starrsinnig einer Beteiligung an den beschäftigungspolitischen Überbrückungsmaßnahmen widersetze. Deshalb haben die Zwickauer Autowerker zweimal ihre Fabrik und auch einige Straßen der sächsischen Industriestadt besetzt. Die im Besitz der Treuhand befindliche Sachsenring GmbH soll ihre überschüssigen Arbeitskräfte nicht einfach auf die Straße werfen, sondern als Teilhaber an der Qualifizierungsgesellschaft Verantwortung übernehmen.
„Wir wollen keine Ausschreitungen“, beteuerte Warth unter dem beifälligen Gemurmel des Saals. Er und seine Kolleginnen und Kollegen wissen, daß es die wildesten Gerüchte in der Stadt über die Straßenblockaden der vergangenen Woche gibt. Krankenwagen für die am Ende der Crimmitschauer Straße gelegene Poliklinik seien von den Arbeitern nicht durchgelassen worden, ist so ein Gerücht, das die Beteiligten heftig zurückweisen. Und die Beschwerde eines Taxifahrers über die versperrte Durchfahrt kontern sie mit dem Hinweis, der habe mit einem Umweg von nur wenigen hundert Metern über andere Straßen sein Ziel erreichen können. Höhepunkt der Aktionen war die Blockade der Zwickauer Autobahnauffahrt an der Schedewitzer Brücke, die zu einem Stau bis in die Innenstadt hinein geführt hat.
Die Zwickauer Autobauer sind überzeugt, daß sie mit ihren spektakulären Aktionen einiges erreicht haben. Der Aufsichtsrat, so berichtet Werth auf der Betriebsversammlung, habe inzwischen einstimmig die Gründung einer Qualifizierungsgesellschaft beschlossen, die rund 3.600 Beschäftigte und 500 Lehrlinge auf zukünftige Tätigkeiten in den neu angesiedelten Industriebetrieben des Zwickauer Raums vorbereiten soll. Vom VW-Konzern, der im nahegelegenen Mosel 3,4 Milliarden Mark für ein neues Montagewerk verbauen will, liegt bereits die Zusage vor, sich mit einer Sperrminorität von mindestens 25,1 Prozent an der Gesellschaft zu beteiligen. Der Konzern will in Mosel rund 7.000 Leute beschäftigen und hat ein Interesse an der Übernahme eines Teils der Zwickauer Autobauer. Auch die Kommune Zwickau will 25 Prozent übernehmen und einige westliche Autozulieferer, die sich inzwischen auf dem Sachsenring- Werksgelände angesiedelt haben, signalisieren haben ebenfalls ihre Bereitschaft. Nur die Sachsenring selber, die ihre Zukunft laut Sanierungsplan mit etwa 1.500 Beschäftigten ebenfalls als Zulieferer für den VW-Konzern sieht, durfte auf Betreiben der Treuhand noch keine Zusage machen.
Management und Aufsichtsrat des ehemaligen Trabbi-Konzerns verstehen diese Sturheit nicht. Erst kürzlich habe der Aufsichtsrat einstimmig eine Beteiligung befürwortet, berichtet Sachsenring-Geschäftsführer Wolfgang Neef den Arbeiterinnen und Arbeitern. Mit den Zusagen der anderen Anteilseigner der SAQ sei nun „die Voraussetzung für eine positive Entscheidung der Treuhand gegeben“. Jedenfalls, so versichert er, werde es vor der Gründung der Qualifizierungsgesellschaft keine Kündigungen bei Sachsenring geben. Schließlich ist die Belegschaft auf etwa 5.800 Beschäftigte, rund die Hälfte des Stands von Ende 1989, geschrumpft.
Die Qualifizierungsgesellschaft, erklärt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Hermig, „ist die einzige Chance, die die Leute haben“. Und, so betont er, „sie ist realistisch“, denn durch die VW-Investition und andere Ansiedlungen werde es in wenigen Jahren einen erheblichen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften im Zwickauer Raum geben. Durch die Aktionen der Sachsenring-Arbeiter, so der Zwickauer IG-Metall-Bevollmächtigte Stachel, „haben wir einen Stein losgetreten“. Der Betriebsratsvorsitzende Warth beschließt die Versammlung im Kulturhaus der Sachsenring-Werke mit einer Manhung zur Wachsamkeit: „Wir werden die nächsten Tage genau beobachten“, verspricht er. Aber immerhin, so gibt er den ArbeiterInnen mit auf den Weg: „Die Hoffnung haben wir nun.“
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