piwik no script img

Leidenschaft für Dschingis Khan

■ Vor genau 70 Jahren siegte die Revolution der Mongolen. Nach der realsozialistischen Erstarrung gibt es nun Managementkurse, mehrere Parteien und die Renaissance des Dschingis Khan. VON UTA SCHÖNE

„Tag des schwarzen Hengstes, der dreißigste des mittleren Sommermonats des blauen Pferdes im Jahr des eisernen weißen weiblichen Schafes“ nennen 8.000 Flugkilometer von Deutschland entfernt die traditionsbewußten Mongolen den 11.Juli dieses Jahres. Seit kurzem ist jener fast in Vergessenheit geratene alte mongolische Kalender wieder populär. Ein Kalender, der zu alledem verrät, daß der 11. Juli ein günstiger Tag für Bildung und Wissenschaft, für Reisen, Geldgeschäfte und Wohltätigkeitszwecke ist.

Offenbar ein gutes Omen für den 70. Jahrestag der Volksrevolution und zugleich Nationalfeiertag in der Mongolischen Volksrepublik. Mit großer Erwartung sehen die Mongolen gerade diesem runden Jubiläum entgegen, nachdem letztes Jahr die ersten freien, demokratischen Wahlen stattfanden und sich in nahezu allen Gesellschaftsbereichen Veränderungen abzuzeichnen beginnen. Nach altem Brauch wird drei Tage lang gefeiert. Jubelfeiern alter Prägung gehören freilich der Vergangenheit an. Nicht verzichtet wird hingegen auf den eigentlichen Höhepunkt, das traditionelle „Erijn gurwan naadam“, auf deutsch: die drei Wettspiele der Männer, das im 13.Jahrhundert erstmals schriftlich belegte, wohl beliebteste Volksfest der Mongolen. Gemeint sind damit die nationalen Sportarten Ringen, Reiten und Bogenschießen. Zugleich ist der Nationalfeiertag für das Zweimillionenvolk, das ein Territorium bewohnt, welches knapp fünfmal so groß wie das der Bundesrepublik ist, auch Anlaß Rückschau zu halten auf seine wechselhafte Geschichte.

Vor 70 Jahren wurde der Sieg der Volksrevolution verkündet. Zuvor hatten mongolische und sowjetrussische Verbände die nach der Aufhebung der Autonomie der Äußeren Mongolei 1919 im Lande stationierten chinesischen Soldaten und die Hauptmacht der wenig später eingefallenen Truppen des weißgardistischen Generals Ungern-Sternberg geschlagen. Die Regierungsgewalt übernahm die 1921 gebildete Provisorische Volksregierung. Nominelles Oberhaupt des Staates blieb der Bogd Chaan in seiner gleichzeitigen Eigenschaft als Oberhaupt der lamaistischen Kirche, allerdings mit stark beschränkten Befugnissen im weltlichen Bereich. Sein Tod 1924 bildete zugleich das Ende der konstitutionellen Monarchie.

„Massensäuberungen“ werden aufgearbeitet

Bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre gehörten unterschiedliche Vorstellungen über den Entwicklungsweg innerhalb der Parteiführung durchaus zur Normalität, darunter auch von einem künftigen mongolischen Staat nach dem Muster der neutralen Schweiz. Zu dieser Zeit unterhielt die Mongolische Volksrepublik noch umfangreiche kommerzielle Beziehungen zu westlichen Industrieländern. Neben den Engländern und Amerikanern zählten deutsche Firmen zu den stärksten Konkurrenten für die russischen Kaufleute und chinesischen Händler auf dem mongolischen Rohstoff- und Binnenhandelsmarkt. Solche Zeitdokumente wie die Protokolle der zwischen 1921 und 1927 stattgefundenen Parteitage der MRVP (Mongolische Revolutionäre Volkspartei) belegen das große Interesse der Partei- und Staatsführung nicht nur an offiziellen Handelsbeziehungen zu Deutschland, sondern unter anderem auch am deutschen Schulwesen.

Aber letzten Endes führten massive Einflußnahme und politischer Druck von seiten des nördlichen Nachbarn und militärischen Verbündeten Sowjetunion, vor allem seit Beginn der dreißiger Jahre, zu veränderten Konstellationen innerhalb der politischen Führungskräfte der Mongolei. Es begann die Zeit der stalinistischen Massenrepressalien, deren Ausmaß erst durch die jüngst in Angriff genommene Aufarbeitung der „weißen Flecken“ in diesem so schwarzen Kapitel mongolischer Geschichte öffentlich gemacht wird.

Zu den Opfern gehörten neben fast 70 Prozent der Lamaschaft auch hochrangige Politiker, darunter zwei Premierminister, hohe Parteifunktionäre, Militärs — nicht wenige davon außerhalb des Landes vor sowjetische Gerichte gestellt —, Wissenschaftler, Schriftsteller wie der Begründer der modernen mongolischen Literatur, D.Nazagdordsh, der in Leipzig studiert hatte, Künstler, selbst einfache Viehzüchter- Araten. Von den 1934 gewählten elf Mitgliedern des Präsidiums der Revolutionären Partei überlebte als einziger Tschoibalsan, der getreue Gefolgsmann Stalins. Nach Angaben der 1989 noch vom alten Politbüro der Revolutionären Volkspartei eingesetzten Rehabilitierungskommission — erste zögerliche Rehabilitierungen gab es bereits Ende der fünfziger Jahre — sollen allein zwischen 1937 und 1939 25.785 Personen des Landesverrats und konterrevolutionärer Aktivitäten beschuldigt, davon 20.039 hingerichtet worden sein. Damals lebten 700.000 Menschen in der Volksrepublik.

Unmittelbar nach dem Tode Tschoibalsans (1951) und Stalins zeigten sich kurzzeitig positive Ansätze einer Demokratisierung, eines wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs. Mit der Festigung der Alleinherrschaft Zedenbals schwand schließlich Mitte der sechziger Jahre auch das, was an Demokratie-Resten noch vorhanden gewesen war. Zu der vordem bestandenen vor allem politischen und militärischen Abhängigkeit von der UdSSR kam in der Folgezeit eine stetig zunehmende wirtschaftliche hinzu. Der staatliche Schuldenberg — der größte Teil davon stammt aus den siebziger und achtziger Jahren — beträgt heute über zehn Milliarden Rubel. Die Auswirkungen einer Russifizierung auch im geistig-kulturellen Bereich und die davon ausgehenden Gefahren für die kulturelle Identität waren zu keinem Zeitpunkt der siebzigjährigen Geschichte der Republik so groß wie während der Zedenbal- Ära. Zweifellos unter anderem auch geschuldet dem Einfluß der Frau Zedenbals, Anastasija I. Filatowa, einer gebürtigen Russin.

1984 wurde Zedenbal, der vor zwei Monaten in seinem Moskauer Exil verstarb, nach über vierzigjähriger, fast ununterbrochener Amtszeit als Partei- und Regierungschef abgesetzt. Bestehen bleiben vorerst der alte Apparat, die alten Wirtschaftsstrukturen. Aber Perestroika und Glasnost — nach sowjetischem Modell von der Partei angeordnet — zeigten bald danach zumindest im geistig-kulturellen Bereich erste positive Auswirkungen. So setzte 1988/89 eine breite Geschichtsdiskussion über jahrzehntelang tabuisierte Themen ein, darunter die Lama-Aufstände in den dreißiger Jahren und die repressive Parteipolitik gegenüber Teilen der Intelligenz. Parallel dazu kam es zu einer massiven Rückbesinnung auf das eigene historische und kulturelle Erbe. Politisches System und Wirtschaftsmechanismus blieben hingegen bis auf geringfügige kosmetische Korrekturen nahezu unverändert, was letztlich auch ein entscheidender Auslöser für eine bis dato nicht gekannte breite Oppositionsbewegung wurde. Ein dreitägiger Hungerstreik, von elf jungen Leuten initiiert, die bei klirrendem Frost auf dem zentralen Platz der Hauptstadt direkt unter den Augen der Partei- und Staatsführung ausharrten, um die Forderungen der Demokraten nach Veränderungen durchzusetzen, zwang schließlich das Politbüro der Partei zum geschlossenen Rücktritt.

Fünf Neuparteien brachen Machtmonopol

Die Ereignisse in dem durch die sprichwörtliche Ruhe und Gelassenheit seiner BewohnerInnen geprägtem Land überschlugen sich förmlich: Verfassungsänderung — Gründung weiterer politischer Parteien — Regierungsneubildung — vorgezogene Wahlen zum Großen Volkshural, dem Parlament — Einführung des Amtes des Staatspräsidenten — Wiedereinführung des Kleinen Staatshurals, des zwischen den Tagungen des Parlaments agierenden Legislativorgans...

Neben der 70 Jahre lang allein regierenden Mongolischen Revolutionären Volkspartei traten erstmals fünf voneinander unabhängige Parteien zu den Wahlen an. Die Altpartei, selbst im entlegensten Zipfel des weiten Steppenlandes präsent, erreichte erwartungsgemäß die absolute Mehrheit. Für die übrigen, damals erst wenige Monate alten Parteien, brachte ein Wählervotum zwischen ein und 24 Prozent den Einstieg in die parlamentarische Arbeit und zugleich auch solche einflußreichen Posten wie den des Vizepräsidenten (Mongolische Demokratische Partei) und zweier Stellvertreter des Premiers (Sozialdemokratische Partei und Nationale Fortschrittspartei). Von 50 Sitzen im Kleinen Staatshural nahmen ihre Vertreter immerhin 19 ein und stellten außerdem den Vorsitzenden.

Der Einfluß der jungen Parteien wuchs zunächst weiter. Die Mongolische Demokratische Partei beispielsweise hatte zum Zeitpunkt ihrer Gründung ganze 120 Mitglieder, Anfang 1990 bereits 2.000 und im Dezember desselben Jahres schon 12.000. Nachdem die versprochene Verbesserung der Lage im Lande nicht eintrat, zeigen sich viele eher skeptisch. Die Revolutionäre Volkspartei, die im November vergangenen Jahres rund 100.000 Mitglieder zählte, hat trotz wesentlicher Verjüngung ihrer Führungsspitze derzeit große Probleme mit der inneren Erneuerung. Die Spaltung in Konservative und Reformer, das Schwinden ihrer Autorität bei der Bevölkerung, auch auf dem weiten Lande, tun das ihrige. Aber noch hat sie einige Eisen im Feuer. Staatspräsident Otschirbat, populärer Parteikader, ist zweifellos die wichtigste Integrationsfigur und trifft genau den Nerv der Mongolen, wenn er, an das Vermächtnis des Dschingis Khan erinnernd, zu Toleranz und Sachlichkeit im Umgang miteinander mahnt.

In einer Frage besteht bei allen Politikern völlige Übereinstimmung, nämlich darüber, daß die gegenwärtig und zukünftig anstehenden Aufgaben angesichts der desolaten Wirtschaft, der katastrophalen Versorgungssituation und ihrer sozialen Folgeerscheinungen wie wachsende Arbeitslosigkeit, nur gemeinsam zu lösen sind. Auch darüber, daß der Weg aus der wirtschaftlichen Misere nur über die Einführung der Marktwirtschaft führen kann, sind sich alle Parteien inzwischen einig. Nach Auffassung der Sozialdemokraten sei der Übergang am schnellsten in der Viehwirtschaft zu vollziehen. Derzeit erhitzen sich die Gemüter daran, ob überhaupt und nach welchen Modalitäten die Reprivatisierung der riesigen gesellschaftlichen Viehherden vor sich gehen soll. Für die Industriebetriebe, bislang zu 100 Prozent staatlich beziehungsweise genossenschaftlich organisiert, werden eine Überführung in Nationaleigentum, Privatisierung, Verpachtung, Umwandlung in Aktiengesellschaften mit ausländischer Beteiligung und anderes mehr erwogen.

Zu Recht vertritt man in der Volksrepublik den Standpunkt, Erfahrungen und Verfahrensweisen anderer Länder weder nachzuvollziehen oder gar zu kopieren, wie es die verhängnisvolle Praxis vergangener Jahrzehnte gewesen war. Schon aus diesem Grunde wird dafür plädiert, alle im Zusammenhang mit dem Übergang zur Marktwirtschaft anstehenden Probleme eher mit Bedacht anzugehen. Das schließt zugleich aber auch ein, daß man die Prozesse in Osteuropa, aber insbesondere in den neuen Bundesländern des vereinten Deutschland, mit großem Interesse verfolgt. Seit letzten Sommer setzte eine Welle von Betriebsgründungen ein — zumeist kleinerer Service — und Handwerksbetriebe, angefangen von Elektromotoren-Wicklereien bis zur Anfertigung von Zahnprothesen. In diesem Monat werden die ersten 70 jungen Mongolen, die eine Ausbildung im Management erhielten, zur Verfügung stehen. Manche Jungpolitiker haben schon die Zukunftsvision vom kleinen „asiatischen Tiger“.

Noch aber ist der Engpaß bei sämtlichen Waren des täglichen Bedarfs außerordentlich groß, die Regale in den Geschäften so gut wie leer, der Zufluß an Importwaren aus Osteuropa nur noch minimal. Das Interesse der Volksrepublik am Ausbau ihrer Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu westlichen Industrieländern, darunter der BRD ebenso wie zu den führenden Industriestaaten Asiens, ist enorm. Zudem setzt das Land verstärkt auf den Tourismus. Es könnte mit dem werben, was in anderen Teilen der Erde schon Seltenheitswert besitzt: unberührte Natur, reine Luft, saubere, fischreiche Gewässer und die naturverbundene Lebensweise der mongolischen Araten.

Wesentlich stärker als im Wirtschaftssektor zeigen sich heute schon die Veränderungen im geistig-kulturellen Leben. Zum Lamaismus, von den Mongolen gelbe Religion genannt, kann sich jeder wieder frei bekennen. Im vergangen Herbst wurde in Ulan-Bator die erste lamaistische Grundschule eröffnet. 100 Schüler zwischen vier und zwölf Jahren werden hier auf eine Laufbahn als Lama vorbereitet. Demnächst soll eine weiterführende Oberstufe dazukommen. Bedarf an Nachwuchs ist vorhanden, denn laufend werden im ganzen Land Gebetsstätten, zum Teil von der ansässigen Bevölkerung liebevoll selbst restauriert, wiedereröffnet. Von den 750 einst vorhandenen lamaistischen Klöstern und Tempeln, die fast alle in den dreißiger Jahren zerstört wurden, gab es Ende 1990 immerhin schon 50.

Auf der Suche nach dem Grab des großen Khan

Allgegenwärtig ist heute auch wieder Dschingis Khan, der in den letzten drei Jahrzehnten offiziell kaum genannt werden durfte, insgeheim um so mehr verehrt wurde. Ein mongolisch-japanisches Wissenschaftlerteam sucht, ausgerüstet mit modernster Technik, nach seinem Grab. In den Filmstudios von „Mongol- Kino“ werden die letzten Szenen eines Monumentalfilmes über sein Leben abgedreht. 1996, zum 790. Jahrestag der Wahl Temudshins, wie sein eigentlicher Name lautet, zum Chaan aller Mongolen, soll eine Gedenkstätte in Ulan-Bator eingeweiht werden. Selbst der von den Mitgliedern des Kleinen Staatshurals unlängst geleistete Eid enthält einen Ausspruch, welcher dem berühmten Vorfahren zugeschrieben wird.

Laut Huralsbeschluß vom Mai dieses Jahres sollen bis 1994 die Vorbereitungen für die offizielle Wiedereinführung der mongolischen Schrift abgeschlossen sein. Ein Volk, das vor drei Jahrzehnten das Analphabetentum besiegte, übt sich nun im Umgang mit seinem eigenen Alphabet. Nachdem dieses in den vierziger Jahren von dem kyrillischen verdrängt worden war, hatten die heute 15- bis 50jährigen nur wenig Möglichkeit, die lange vor Dschingis Khan gebräuchliche mongolische Schrift zu erlernen und weiter zu pflegen. Darin aber, daß dieses Vorhaben nicht kurzfristig realisierbar ist, sind sich wohl die meisten Mongolen einig.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen