: Genscher „seelenlos pragmatisch“
■ Kritik aus der CDU an der Politik des Außenministers in der Jugoslawien-Krise/ Forderung nach einer Anerkennung Sloweniens und Kroatiens/ Vogel gegen deutsche Soldaten am Krisenherd
Düsseldorf/Bonn (dpa/ap/taz) — In Deutschland mehren sich die Stimmen für eine diplomatische Anerkennung von Slowenien und Kroatien. Gleichzeitig wächst die Kritik am Verhalten von Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Jugoslawien-Krise.
Der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Karl Lamers, hielt Genscher vor, die Notwendigkeit einer Neuorientierung nicht erkannt und innerhalb der EG keine eigenständige Position Deutschlands zur Abspaltung Sloweniens und Kroatiens artikuliert zu haben. „Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker sollte sofort ausgesprochen werden, denn die Einheit Jugoslawiens ist ohnehin nicht zu erhalten und kann nur Ergebnis von Freiheit sein“, sagte Lamers. Der Generalsekretär der NRW-CDU, Herbert Reul, meinte in Düssseldorf: „Genschers Vorgehen ist von einem seelenlosen außenpolitischen Pragmatismus gekennzeichnet, der sich an überkommenen Machtstrukturen orientiert. Er hat aufs falsche Pferd gesetzt.“
CSU-Generalsekretär Erwin Huber verlangte, die internationale Gemeinschaft müsse der jugoslawischen Armee ein Ultimatum stellen, um ein Ende des Militäreinsatzes zu erzwingen. Wenn die Armee nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Gewaltverzicht erkläre und abrücke, müßten Slowenien und Kroatien international als unabhängige Staaten anerkannt werden.
CDU-Generalsekretär Volker Rühe hatte Genscher am Mittwoch „schwere Fehler“ vorgehalten. Die Signale und Warnungen an die jugoslawische Zentralregierung seien viel zu spät gekommen und zu vage gewesen. Der Bundestag müsse diese Fehler und Versäumnisse sorgfältig untersuchen, so die Forderung des CDU-Generalsekretärs.
SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel meinte in Bonn, die Anerkennung von Slowenien und Kroatien seitens der Bonner Regierung sei das „äußerste Mittel“. Es müsse nunmehr alles geschehen, damit die militärische Gewalt sofort beendet werde und Vermittlungsvorschläge durchgesetzt würden. Den Einsatz deutscher Soldaten in Jugoslawien schloß Vogel im Gegensatz zu CDU-Politikern wie etwa dem früheren Verteidigungsminister Rupert Scholz von vornherein klar aus. „Wer als junger Mensch die Jahre 1941 bis 1945 miterlebt hat, kann sich deutsche Soldaten in diesem Teil der Welt nicht vorstellen“, sagte der SPD-Fraktionschef.
Der FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff wies die Kritik an Genscher als ungerechtfertigt zurück. Er sprach sich in einem Brief an die slowenischen Liberalen für eine neue Form der Zusammenarbeit der jugoslawischen Teilrepubliken in Form einer losen Konföderation aus. Lambsdorff verlangte eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats zu Jugoslawien.
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