: Die Planer zerstören Dublin gründlicher als der Krieg
■ In diesem Jahr ist die irische Metropole Kulturhauptstadt Europas/ Die Stadtverwaltung läßt die historische Bausubstanz seit Jahren verrotten
Warum, oh warum hat die Artillerie nicht halb Dublin zerstört, solange sie dazu Gelgenheit hatte? Denken Sie an die unhygienischen Viertel, die Slums und die glorreiche Gelegenheit, sie mit einem Schlag hinwegzufegen. Nur 179 Häuser und davon neun recht ordentliche! Ich hätte wenigstens 179.000 umgelegt und dann eine anständige Stadt gebaut.“ Mit diesen Worten wandte sich der Schriftsteller George Bernard Shaw im Mai 1916 an den britischen Unter-Staatssekretär im Dubliner Schloß. Irische Rebellen hatten am Ostermontag 1916 in Dublin öffentliche Gebäude besetzt, und das Viertel um das Postamt war von der britischen Armee mit schwerer Artillerie niederkartäscht worden. Im Bürgerkrieg brach mit „knurrenden Protesten von Zehnpfündern“ und „Strömen brennender Vernichtung“ (Sean O'Casey) weitere Zerstörung über die Stadt herein.
1991 nun ist Dublin Kulturhauptstadt Europas. In den 75 Jahren seit dem Osteraufstand haben Planlosigkeit und Fehlplanung, verantwortungslose Kommunalpolitiker, Städteplaner, Bodenspekulanten und Baulöwen Dublin stärker verheert, als Shaw es sich von dem britischen Kanonenfeuer erhofft hatte. 1971 schrieb der Philosoph der Städteplanung, Lewis Mumford, Dublin weise die schlimmsten Merkmale provinzieller Isolation und metropolitaner Erweiterung auf und sei auf dem besten Wege, zu einer Fiktion ihrer selbst zu werden.
Der Musiker Bob Geldof sagt über seine Heimatstadt: „Die Zerstörung Dublins ist eine furchtbare Barbarei, das Werk von Gierigen, Korrupten, Dummen, Einfallslosen, Mittelmäßigen, Geschmacklosen, Vulgären — aber primär das Werk von Indifferenten.“ Noch vor 20 Jahren war der Bachelor's Walk am Ufer der Liffey baulich vollkommen intakt. Auktionshäuser, Antiquitätengeschäfte und Buchhandlungen mit Auslagen auf den Gehwegen verliehen der innerstädtischen Promenade ein lebendiges Gepräge. Doch die georgianischen Häuser wurden Opfer der Abrißbagger. Bereits Mitte der 70er Jahre schrieb die britische Zeitschrift 'Architectural Review‘: „Während pittoresker Verfall für ein Gemälde attraktiv sein mag, ist es eine Katastrophe, die Baustrukturen vor sich hingammeln zu lassen, denn diese Ufergebäude bilden das Kernstück Dublins. Nimmt man ihren Zerfall oder ihre Ersetzung durch unsympathische neue Gebäude hin, wird der erinnerungswürdigste Aspekt der Stadt verschwinden.“
Im Nordteil der Stadt sieht es nicht besser aus. Den Stadtpalästen in der Henrietta Street aus dem frühen 18. Jahrhundert wird ebensowenig denkmalpflegerische Obhut zuteil wie dem Mountjoy Square, der einst besten Wohnadresse Dublins. Während auf einer Seite des großzügig angelegten Platzes eine ganze Häuserzeile verkommt, wurden gegenüber Allerweltsbürogebäude — Replikate aus dunkelbrauner Klinkerverschalung — hingesetzt. Von diesem Platz führt die seit 1986 als Sanierungsgebiet ausgewiesene Gardiner Street hinunter zum Hauptzollamt an der Liffey. Wenn es eine Poesie der Trostlosigkeit gibt, so findet man sie hier.
Die Straße, mit der Grundstücksspekulanten ihrem eigenen Vernichtungswerk ein Mahnmal gesetzt haben, wirkt wie ausgebombt. Die wenigen verbliebenen Häuser sind abbruchreif. Hinter den unkrautüberwucherten Trümmerfeldern erheben sich schäbige Mietskasernen. In der gegenüberliegenden Eccles Street mußten die Häuser einer ganzen Straßenseite dem Neubau des von den 'Sisters of Mercy' geführten Mater-Privatkrankenhauses weichen. Die barmherzigen Schwestern machen auch auf der Südseite der Straße, die ihnen ebenfalls gehört, ihrem Namen keine Ehre, sondern überlassen die Häuser dem Ruin.
Die Sorge der Stadtpolitiker gilt in erster Linie den Pendlern der Suburbia. Die Innenstadt wird nur noch von 80.000 Menschen bewohnt, die Bevölkerung ist in die Außenbezirke, in Satellitenstädte abgewandert. Zugunsten der Blechlawinen, die sich allmorgendlich in die Innenstadt wälzen, opfern die Politiker die Zukunft der Stadt einem ambitionierten, aber verfehlten Straßenverbreiterungsprogramm — mit Hilfe von EG-Fonds . Der Entwicklungsplan der irischen Regierung sieht für den Straßenbau 212 Millionen Pfund vor, während das öffentliche Nahverkehrssystem mit einem Sechstel dieser Summe auskommen muß.
Seine Weiträumigkeit verdankt Dublin der „Wide Street Commission“, die 1757 als erste Stadtplanungsbehörde Europas ins Leben gerufen wurde. Lange vor dem französischen artiste démolisseur, Baron Georges Eugène Haussmann (1809 bis 1891), hingen die Planungskommissare dem Ideal an, durch lange und breite Straßenschluchten überall in der Stadt perspektivische Durchblicke zu schaffen. Die Straßen Dublins verschachtelten sich nicht mehr in enger Zufälligkeit. So wurde Platz für großflächige Grünanlagen und Parks geschaffen. Die Stadtplaner konnten Land enteignen und beaufsichtigten den Umbau der Stadt. Eine planerische Leistung waren die Ringstraßen, die in Form einer Ellipse mit dem Fluß Liffey als Hauptachse den gesamten Stadtrand umgaben. Was allerdings um 1800 eine mehr als ausreichende Verkehrsader war, ist heute ein hoffnungslos im Verkehr erstickender Innenstadtring.
Frank McDonald von der 'Irish Times‘ bescheinigte der irischen Regierung, Dublin „kaum besser als einen Steinbruch für die Bauindustrie“ zu behandeln. Da diese in Irland ein zentraler Wirtschaftszweig ist, wird jede irische Regierung zögern, ihre Forderungen zu übergehen. Das Selbstverwaltungsrecht der irischen Kommunen ist äußerst begrenzt. Die Bewohner können über ihre gewählten Vertreter kaum Einfluß auf Entscheidungen nehmen. Dies mag der Grund dafür sein, daß die Stadtverwaltung trotz vielfältiger Bürgerproteste und einer rührigen „Dublin Georgian Society“ das architektonische Erbe nach wie vor in unverantwortlicher Weise vernachlässigt. Das Hauptproblem sind allerdings mangelnde Einsicht in bewahrende Notwendigkeiten und fehlende verbindliche gesetzliche Grundlagen für bauerhaltende Maßnahmen. So kommt es, daß das Schicksal der georgianischen Bausubstanz von Dublin's Fair City in den Händen indifferenter Stadtplaner und egoistischer Spekulanten liegt. Hans-Christian Oeser/Jürgen
Schneider/Ralf Sotscheck
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