QUERSPALTE
: Eine EG mit anderen Mitteln

■ Heute beginnt in Lyon die 78.Tour de France

Einmal in jedem Jahr verlagert sich das alltägliche Hickhack der EG-Länder ein Stückchen weiter nach Westen. Statt nach Brüssel blickt Europa in die Pyrenäen oder die Alpen, aufreibende Diskussionen über den Krümmungsgrad europatauglicher Gurken oder die Füllmenge des EG- genormten Margarinebechers weichen der Begutachtung von Fahrradsätteln und strammen Waden. Statt Agrardebatte ist Zeitfahren angesagt, der EG- Gipfel buchstabiert sich L'Alpe d'Huez, kurzum: die Tour de France ist angesagt. Von heute an machen die besten Radfahrer der Mitgliedsländer die Straßen Frankreichs unsicher, eine Europäische Gemeinschaft mit anderen Mitteln sozusagen, die in drei Wochen nach 22 aufreibenden Etappen auf den Champs-Elysées zu Paris ihr verdientes Ende finden wird.

Die Franzosen werden dann vermutlich mit höchst gemischten Gefühlen am Straßenrand stehen, denn so, wie ihr Land auch im europäischen Staatenbund gern aus der Reihe tanzt, ist es auch in seinem Nationalsport ins Abseits geraten und spielt beim französischsten aller Sportereignisse seit Jahren nur noch eine Statistenrolle. Miserabler präsentieren sich nur noch die Engländer, deren Beitrag zum sportlichen Weltgeschehen, sieht man einmal von der Leichtathletik und vom Hunderennen ab, sich im Fußball-Pitbull Paul Gascoigne und der Herzogin von Kent erschöpft.

1985 hat mit Bernard Hinault zum letzten Mal ein Franzose die Tour gewonnen, seither ruhen die stets enttäuschten Hoffnungen der radverrückten Nation fast ausschließlich auf den Schultern des ungeliebten Laurent Fignon. Ansonsten bestimmmen Iren, Belgier, Holländer, Spanier und ein paar Deutsche die europäische Speichenszenerie. Und die Italiener natürlich. Nicht genug damit, daß sie ständig Fußball-Europapokale gewinnen, jeden Kicker, der einigermaßen geradeaus laufen kann, mit Lirebündeln in ihr Land locken und Berlin die Olympiade wegschnappen wollen, nun strecken sie ihre Fühler auch noch nach der Tour de France aus, die mit Felice Gimondi zum letztenmal vor 26 Jahren einer der Ihren gewonnen hatte. Gianni Bugno und Claudio Chiappucci heißen die Hoffnungsträger der Tifosi, denen eigentlich nur Pedro Delgado Paroli bieten kann, jener Spanier, der seine Chancen im letzten Jahr wegen einer Darmerkrankung eingebüßt hatte und sich damals während der mörderischen Pyrenäenetappen an einen ganz anderen Ort wünschte als ausgerechnet auf einen Fahrradsattel.

Und Greg LeMond. Der hat bereits drei Tour- Siege auf dem Buckel, war ein alter Kumpel von Bernard Hinault, kommt aus Amerika, und die EG samt ihren Gurken ist ihm herzlich wurscht. Mit ihm könnten sich vielleicht sogar die Franzosen anfreunden. Matti Lieske