: Aufbauarbeit im Zusammenbruch
■ Wie Bremer Richter in Rostock beim Aufbau eines westlichen Rechtssystems helfen und immer frustrierter werden
Natürlich läuft nicht alles glatt: Telefonbücher sind so rar wie die auf Anhieb zustandekommenden Gespräche, manche Anwälte erzählen in ihren Schriftsätzen Geschichten, ohne zu sagen, was sie wirklich wollen, und die Bibliotheksleiterin ist oft gerade dann mit dem ihr anvertrauten einzigen Schlüssel verschwunden, wenn dringend ein Kommentar benötigt wird. Oder dieses: Vier Pförtner sitzen im Empfang, „nutzlos“, wie gestern einer von den drei anderen sagte. Doch keiner von ihnen erklärt sich bereit, Botengänge zu machen. Eine würdelose Arbeit, wie sie finden. Immerhin haben sie vor kurzer Zeit noch entschieden, wer diesen Bau überhaupt betreten darf.
Keine Boten — kein Aktenumlauf. Also tragen die Richter selber das Nötige zwischen ihren Zimmern, den Geschäftsstellen und Schreibstuben hin und her. Dieter Feldhusen, seit Anfang Oktober letzten Jahres am Rostocker Kreisgericht, hat unter diesen Umständen gelernt, ein „geduldiger Mensch“ zu werden. Heute vormittag verläßt der Bremer Verwaltungsrichter bereits das zweite Mal die Geschäftsstelle. Er blättert in der Akte herum, murmelt „wieder mal keine Lust gehabt, die Seiten zu numerieren“ und schlägt sie zu. Die Basis, auf der sich ein gesundes Verhältnis zwischen Ost- und Westrichtern aufbauen ließe, fehlt noch immer. Keiner weiß, ob er übernommen wird.
Am anderen Ende kommt ihm ein Ostkollege entgegen und verschwindet in seinem Zimmer. So scheint es. Er hat aber gewartet. Als Feldhusen auf gleicher Höhe ist, geht er auf ihn zu, in unterwürfiger Haltung, mit gebeugtem Rücken, unentwegt nickendem Kopf und ausgestreckter Hand: „Guten Morgen, Herr Kollege, guten Morgen.“ Befremden löst diese Szene aus, und Mitleid. „Der baut vor“, sagt Feldhusen, „er kann nicht abschätzen, wie meine Position hier aussieht.“
Noch immer fehlt die Basis, auf der sich ein gesundes Verhältnis zwischen Ost-und Westrichtern aufbauen ließe. Keiner der 14 Ostrichter weiß bisher, ob er übernommen wird. Seit über einem Jahr leben sie jetzt in Abrufstellung. „Unverantwortlich lange“ schleppe sich die Überprüfung voran, findet Feldhusen.
Ende 1990 munkelte man in Mecklenburg-Vorpommern, einige Richter des Richterwahlausschusses seien vielleicht selber belastet. Daraufhin setzte das Justizministerium einen Beirat, zusammengesetzt aus Westjuristen, ein. Der soll „vorprüfen“; die Richter des Wahlausschusses selbst sollen kontrolliert werden und natürlich die übrigen 119 Landesrichter, die noch per Ermächtigung amtieren. Passiert ist bislang aber nichts, zumindest nichts, worüber die Richter von irgendwem informiert worden wären.
Mit Trotz reagieren einige Ostrichter auf diesen Zustand, wie der Kollege, der morgens noch lamentiert, er schaffe seine siebzig unerledigten Akten nie und dann am frühen Nachmittag verkündet, er „haue sich jetzt in den Park“. Aber auch mit Resignation wie Ines Linck. Mittlerweile sei ihr das Ergebnis der Überprüfung beinahe egal, sagt die 31jährige Zivilrichterin, es solle nur bald vorbei sein. „Wenn es wirklich ausreicht, jemanden wegen unerlaubten Grenzübertritts verhaftet zu haben, sind wir ohnehin alle weg“, sagt sie, „hier im Grenzkreis hat das während des Wochenenddienstes jeder mal machen müssen.“ Offizielle Kriterien dafür, wer als belastet gilt, gibt es nicht. „Wir haben alle unsere Neurosen und Psychosen."
Spekulationen und Gerüchte, mehr bleibt nicht. Offizielle Kriterien dafür, wer als belastet gilt, gibt es nicht. Das nährt die Unsicherheit. „Wir sind alle mit Neurosen und Psychosen behaftet“, sagt Barbara Kanitz. Die Arbeitsrichterin begegnet der „unbekannten Größe, die einem gegenübersteht“, an vielen Tagen nur noch mit Beruhigungstabletten. Wie es denn sei, mit der richterlichen Unabhängigkeit, fragt sie, wenn ein Hamburger Rechtsanwalt, Mitglied im Beirat des Justizministers, schon vor Wochen auf den Fluren verkündet habe, kein Ostrichter bleibe im Amt und dieser Mensch jetzt als Prozeßvertreter in ihren Verhandlungen auftauche: „Glauben Sie, da bin ich unabhängiger als früher?“
Das zähe Überprüfungsverfahren und die gedrückte Stimmung wirken sich auch auf die Arbeit der sechs Westrichter aus. Bis auf den Arbeitsrichter arbeiten sie mit den Ostkollegen nicht zusammen. Feldhusen würde gerne einen jungen Kollegen für das Verwaltungsrecht ausbilden, und sein Schützling würde lieber heute als morgen damit anfangen. Nur: Er ist noch Assistent und kein Richter, kann also dem Verwaltungsgericht nicht offiziell über den Geschäftsverteilungsplan zugewiesen werden. Eine inoffizielle Tätigkeit verhindert der alte, noch amtierende Direktor. Also ordnet das Nachwuchstalent weiterhin Gebrechlichkeitspflegschaften an.
So etwas stellt Feldhusens neuerworbene Geduldsfähigkeit auf Probe. Sie haben hart gearbeitet, die Westler: Die Bibliothek ist gut bestückt; sie haben Pläne durchgesetzt und allen Türen Namensschilder verpaßt. „Jetzt muß man den Menschen hier doch endlich sagen, wie das mit ihnen weitergeht. Bei allen hätte ich allein Bedenken wegen der fachlichen Qualifikation“, sagt Feldhusen, „doch anstatt die zu fördern, nimmt man ihnen die letzte Lust.“
Natürlich gibt es Fortbildungslehrgänge. Selbst Westprofis würden staunen, wie schnell der Repetitor den gutgläubigen Erwerb von Hypotheken abhakt: „Das sollten Sie vielleicht doch noch einmal nachlesen.“ Vielleicht. Dazu bedarf es einer hochgradigen Motivation und eines guten Lehrbuchs. Doch alle Richter haben die 500 Mark Büchergeld, vom Land zur Verfügung gestellt, längst für das Nötigste ausgegeben. Barbara Kanitz sagt: „Ich kaufe von meinem Hungerlohn doch nicht noch Bücher, die ich in einem Vierteljahr vielleicht gar nicht mehr brauche.“
1114 Mark verdienen die Ostrichter im Monat, knapp 300 Mark weniger als die Putzfrauen. Der krasse Unterschied zu den Westlern — die kommen im Monat mit Zulagen auf 8000 Mark brutto — verstärkt nicht nur die Unsicherheit; die Geldknappheit vertieft den Graben, ganz konkret, jeden Mittag. Seit einigen Wochen gehen nur noch die sechs aus dem Westen zusammen essen. Seitdem sie auch in den Kantinen westliche Preise zahlen müssen, bringen sich die übrigen Kollegen für den Mittag ihre Brote mit. In der ersten Zeit gingen alle manchmal kegeln oder tranken nach Feierabend ein Bier zusammen. Doch auch das ist aus.
„Jeder ist zum Einzelkämpfer geworden“, sagt Ines Linck, „auch wenn wir unter uns sind. Früher sind wir füreinander eingesprungen. Heute rührt keiner die Hand, wenn nicht eventuell jemand anders zuständig sein könnte.“ In ihrer Stimme liegt Wehmut.
Gunda Wöbken-Ekert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen