Päpstliche Dogmatik-betr.: "Aufbruch vom anderen Ufer", taz vom 28.6.91

betr.: „Aufbruch vom anderen Ufer“, taz vom 28.6.91

Elmar Kraushaar wird mal wieder nicht müde, die Schwulenbewegung totzureden. Der Gute hat noch immer die ewig gestrige Vorstellung, entweder ist die Schwulenbewegung klassenkämpferisch oder sie ist gar nicht. Solch päpstliche Dogmatik ist für die Schwulenbewegung antiquiert und äußerst hinderlich.

Anfang der siebziger Jahre grassierte die revolutionäre Randgruppentheorie, die zum Sturz des Kapitalismus führen sollte. Die revolutionärsten aller Utopisten erkannten jedoch zehn jahre später ihren ideologischen Irrtum und lösten ihre Organisationen auf. Die bewegten Schwulen glaubten auch nicht mehr daran, allein durch den Sturz des Kapitals befreit werden zu können, also verstanden sich große Teile als eine selbständige Bürgerrechtsbewegung. Und so lebt die Schwulenbewegung munter vor sich hin durch viele bewegte Schwule, die für ihre Interessen kämpfen, sei es am Arbeitsplatz, in der Politik oder im Kulturbetrieb, wie in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Für diesen Kampf ist es logisch, will man nicht nur als Einzelkämpfer seinen Weg gehen, daß sich auch Schwule organisieren und dabei das gleiche Recht in Anspruch nehmen wie Heterosexuelle, sich assoziieren und Vereine zu gründen. Allein darin bestand und besteht immer noch ein emanzipatorischer Akt, daß dies oft gegen den Widerstand von Behörden und Verbänden durchgesetzt werden muß. Die arrogante Polemik von Elmar gegen die Vereinsgründungen von Schwulen ist hier bestes Beispiel für die Tendenz der Selbstzerfleischung diskriminierter Minderheiten. Der bunten Vielfalt der Schwulengemeinschaft ist eine von oben verordnete Ideologie äußerst unbekömmlich, schon gar nicht das stalinistische Geschwätz vom Klassenkampf.

Wir brauchen eigene Verbände und Organisationen, weil die gesellschaftliche Situation dies erfordert. Auch Schwule fühlen sich wohler unter Gleichgesinnten, sei dies in einem Aktionskomitee, einem Chor oder Sportverein. Auch Aids-kranke Schwule lassen sich lieber von Schwulen pflegen, Elmar würde es nicht wagen, sich darüber lustig zu machen, auch die brauchen einen Kassenwart!

Wenn sich das Bild von Schwulen in der Gesellschaft schließlich geändert hat und die Diskriminierung sich anhört wie ein scheußliches Märchen aus dem Mittelalter, vielleicht ist dann die Zeit gekommen, wo wir keine eigenen Vereine mehr brauchen.

Utopien sind schön und gut, auch der Traum von einer klassenlosen Gesellschaft, die weder Hetero-, Homo- noch Bisexualität kennt, sondern nur noch eine fließende sinnliche geschlechtslose Erotik frei schwebender Atome. Bis dahin wird noch viel Wasser die Spree runterfließen, beste Genossin Kraushaar, doch in der Zwischenzeit sind konstruktive und kreative Vorschläge gefragt und nicht das ewige defätistische Gejammer!

Die Stadt wird dessen ungeachtet noch viele explosive und lebensfrohe CSD-Paraden erleben, in denen Lesben und Schwule für das Recht auf ihre eigenen Lebens- und Liebesvorstellungen demonstrieren — und das sehr lustvoll! Bernd Stürzenberger,

Berliner Schwulen-Verband