: Strafrecht taugt nicht — aber was sonst?
Bei einem Forum des Justizministeriums stellten fast alle Teilnehmer fest, daß das SED-Unrecht strafrechtlich nicht zu ahnden sei/ Wenige Aussagen zum Umgang mit der Vergangenheit ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan
Walter Odersky hätte sich die Mühe sparen können. „Bitte überschätzen Sie nicht die Möglichkeiten, die auf strafrechtlichem Gebiet liegen“, beschwor der Präsident des Bundesgerichtshofes jene etwa achtzig Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung gestern in Bonn, die bei aller Verschiedenheit in einem Punkt fast völlig übereinstimmten: Dem Unrecht des SED-Staates ist strafrechtlich nicht beizukommen.
„Eine Herausforderung für den Rechtsstaat, insbesondere das Strafrecht.“ Dieses Motto hatte das Bundesjustizminister Kinkel seinem Forum zu „40 Jahren SED-Unrecht“ gegeben. Parteipolitiker und Justizminister, Richter und Wissenschaftler, Vertreter von Verbänden und „Betroffene“, Schriftsteller und Journalisten waren für einen Tag nach Bonn gekommen, um schon zu Beginn der Diskussion nahezu kollektiv festzustellen: Herausgefordert, das Erbe der DDR zu bewältigen, kann nicht das Strafrecht sein. Herausgefordert sind die Politiker, die Medien, die Menschen selbst. Freilich: Fast ebenso häufig wie solche Selbstverständlichkeiten beschworen wurden, fehlten konkrete Vorschläge dazu, wie man sie im gesellschaftlichen Alltag ausgestaltet.
Nur ein paar Teilnehmer stellten einen strafrechtlichen Umgang mit der SED-Vergangenheit ganz grundsätzlich in Frage. So warnte etwa Stefan Heitmann, der sächsiche Justizminister, vor einem Sündenbockmechanismus, bei dem die ganze Schuld auf einige Menschen abgewälzt werde. Für viel wichtiger als „die strafrechtliche Relevanz“ bezeichnete der Philosoph Hermann Lübbe die „Feststellung der politischen Verantwortlichkeiten“ die es dann auch gelte, „öffentlich mit Despekt zu quittieren“. Anders als diese beiden Teilnehmer beklagten die meisten Diskutanten die technischen Probleme eines strafrechtlichen Umgangs mit der SED- und Stasi-Vergangenheit. „Es gibt eben keine Vorschrift, nach der bestraft wird, wer eine Diktatur errichtet oder zu errichten hilft.“
Lapidar faßte etwa Generalbundesanwalt Alexander von Stahl zusammen, weshalb auch die Repräsentanten der ehemaligen DDR kaum dafür belangt werden können, daß und wie sie die Bevölkerung unterdrückten. Hier merkte er sogar an, daß die Rechtmäßigkeit von Verfahren gegen DDR-Spione demnächst vor dem Verfassungsgericht überprüft würde.
Ausführlicher schilderte Klaus Kinkel seine „großen Sorgen mit der sogenannten Regierungskriminalität“. Die DDR hätte sich als ganzer Staat in weiten Bereichen vom Recht abgekoppelt. Anders als in der BRD habe das Recht als Maßstab für die Kennzeichnung von Unrecht dort keine Wertigkeit gehabt — sprich, was damals in der DDR rechtens war, kann heute zumeist nicht als Unrecht geahndet werden. Überdies, so der Justizminister, sei die individuelle Schuld der meisten DDR-Politiker nur schwer nachweisbar. Obwohl man trotz alledem „das Strafrecht braucht“, obwohl die Opfer eine Amnestie der Täter nicht akzeptieren würden, ginge es nun auch darum „die Opfer zu versöhnen und Rechtsfrieden zu schaffen“. Hierfür kündigte Kinkel an, einen Gesetzentwurf zur strafrechtlichen Rehabilitierung von SED-Opfern noch diesen Monat ins Kabinett einzubringen.
Der Historiker Karl Bracher folgte der Stoßrichtung der kinkelschen Argumentation zwar nicht ganz: Auch wenn die Taten der DDR-Führung damals nicht verboten gewesen seien, könne die „Gesetzlichkeit des Unrechtsstaates“ nicht grenzenlos anerkannt werden. Dennoch forderte auch Bracher lediglich allgemein „gründliche Revirements“ der DDR-Vergangenheit und den Vorrang von „Gerechtigkeit“ gegenüber „Effizienz“ bei der Aufarbeitung.
Was die immer wieder beschworene politische und moralische Aufarbeitung voraussetzt, wie sie überhaupt zu leisten ist: Diese Frage stellten nur wenige der Teilnehmer des Forums gestern in Bonn. Und noch weniger Diskutanten bemühten sich um eine Antwort. So forderte etwa Stefan Heitmann, die SED-Vergangenheit viel stärker als bisher öffentlich und wissenschftlich aufzuarbeiten. Gleichzeitig verlangte er, die „unvertretbar niedrigen Entschädigungssätze“ für Opfer des SED- Regimes zu erhöhen.
Der stellvertretende Leiter der Gauck-Behörde Geiger forderte, Stasi-Akten vor allem den Betroffenen zugänglich zu machen. Eine „Befriedung der Gesellschaft sei nur zu erreichen, wenn jeder betroffene Bürger erfahre, was in seinem privaten Bereich geschehen sei.
Der Schriftsteller Erich Loest mahnte eindringlich eine „geistige Auffüllung“ in Unis, Redaktionen und Gerichten an. Er kritisierte die Bundesregierung massiv dafür, daß sie die Opfer des SED-Staates bisher kaum oder gar nicht entschädigt habe.
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