: Die Gefahren des Lokalen
■ Die Künstlergruppe »Bismarck-Media« stellte sich im Antiquariat »Kalligramm« vor
Das Antiquariat »Kalligramm« in der Oranienstraße, in dem am Dienstag abend Helmut Höge und Sabine Vogel ihre Endlosrecherchen vorstellten, farbenprächtige Dias zeigten und auch noch einen Überraschungsgast — nämlich Dieter Kunzelmann — mitgebracht hatten, ist wie nur wenige geeignet, das Verständnis der geheimnisumwitterten »Bismarck-Media«-Künstlergruppe zu verdeutlichen. Lokalkultur ist eine konzentriertere Form des Kneipengesprächs. Für Konzentration mochten die Bücher gestanden haben; das Lokale wurde durch ein paar Kästen »Berliner Pilsener« repräsentiert. Doch schon hier verwirrte sich das, was auf den ersten Blick so gut zusammenpaßte: »Berliner Pilsener« nämlich, »das Bier von hier«, das so gerne getrunken und angeboten wird, um zur Stärkung des Lokals von unten Stimmung zu machen, wird von Westlern als Ost-Bier gefeiert, ist jedoch längst schon in der Hand eines Westberliner Bierriesen. Ausgezogen, um Bier, Leben und Wirtschaft der Besiegten dort zu unterstützen, tranken die Westberliner Künstler, Literaten und unermüdlichen Journalisten tatsächlich »Bier von hier«.
Was sich beim Bier ereignete, wiederholte sich in der Veranstaltung: Überraschend trafen jeweils zwei Orte, Ereignisse oder Handlungen aufeinander. Und das Resultat ist immer ein anderes als das, was intendiert war. Das angestrebte, gleichwohl intentionslose Scheitern, das man während der Arbeit gewohnt ist zu vergessen, klappte fast immer. Die »Bismarck-Media«-Kollegen zum Beispiel, die sich so engagiert und solidarisch nach der Maueröffnung aufgemacht hatten, um die Saarmunder LPG »Florian Geyer« ein paar Monate lang zu unterstützen, mußten am Ende ihrer Arbeit feststellen, daß die Mitglieder der LPG ausnahmslos CDU wählten, und zogen enttäuscht mit hingekritzelten Notizen und ein paar hübschen Dias (Trecker im Nebel z.B.) wieder von dannen. »Wenn der Wald stirbt, muß es dem Menschen nicht schlecht gehen«, meinte Sabine Vogel. Und immer wieder fiel der Satz: »Wir wissen eigentlich gar nicht mehr, worum es uns eigentlich ging.« Fast obsessiv hält man sich dann an den Bildern der »Künstlersozialkasse« in Oldenburg fest, um schließlich Dieter Kunzelmann, dem alten Situationisten, ehemaligen AL-Politiker und K-1-Veteranen das Wort zu erteilen. »Nun sag du doch mal was, Dieter.« Und »Dieter« berichtete manchmal krähend, manchmal wechselte er seine zwei Schirmmützen, vom Sommerlochskandal, der um sein Gedicht, das er für eine Ausstellung des Werkbundarchivs, hergestellt hatte, entstand. In klassischer Politprovo-Pose hatte er mit dem Gedicht das aktualisiert, was die Werkbundausstellung historisch thematisieren wollte, und war daraufhin als Teilnehmer ausgeschlossen worden. Doch wie das Bier von hier eigentlich doch von dort kommt, so wurde auch das Gedicht, dessen Verbreitung unterbunden werden sollte, erst durch die »Zensur« bekannt. Die taz dokumentierte es letzte Woche vollständig, die 'Bild‘-Zeitung machte tags darauf einen Aufmacher — Kunzelmann hätte zum Mord gegen Diepgen aufgerufen —, viele andere Zeitungen ('Freitag‘, 'Zeit‘, 'SZ‘) ziehen nach, Kunzelmann freut sich auf einen bevorstehenden Talkshoweinsatz. Sein Gedicht wird Abitursthema werden, vermutete ein Zuhörer (»Arbeiten Sie den Zynismusvorwurf anhand von K.s Gedicht heraus«), und eine hübsche kleine Sommerlochprozeßlawine beginnt ins Rollen zu kommen: Diepgen, den Kunzelmann zur Klage bewegen wollte, weil das Gedichtete den »regierenden Dieb« poetisch an seine Raststättenaffäre erinnerte, klagte nicht. Wohl aber klagt Kunzelmann gegen 'Bild‘ wegen Verleumdung, gegen Diepgen, weil der ihn laut 'Morgenpost‘ ein »krankes Hirn« genannt hatte, beschwerte sich bei der taz-Redaktionsleiterin, weil sie sich öffentlich für den taz-Abdruck des Gedichts entschuldigte, und kündigte an, daß er sich öffentlich verbrennen wolle, wenn sie sich wiederum nicht bei ihm entschuldigte. Später wurde eine szenische Darstellung des klassisch-lokalen Konflikts erwogen, die am besten im Ostberliner »Prater« stattfinden sollte.
Viel mehr noch als in der großen Politik liegen die Gefahren des Lokalen in einer vollständigen Verwirrung der nichtlokal Beteiligten; je genauer und länger man im Lokal beim Bier in den Mikrokosmos der Dinge, Menschen, Verwicklungen, Gerüchte, Schweinereien und lobenswerte Handlungen blickt, desto mehr beginnen sie für den Außenstehenden unkenntlich zu werden, der im Berliner-Pilsener-Rausch allerdings immer wieder aufblickt — das ist dann der rettende Haltepunkt in einer verwirrenden Welt —, wenn Namen, Personen und Institutionen fallen, die er/sie kennt. Detlef Kuhlbrodt
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