piwik no script img

Enzyklopädie in Gips

■ Das Heimatmuseum Charlottenburg erforscht ein umstrittenes Material

Aus Anlaß des hundertjährigen Bestehens der Gipsformerei Charlottenburg dokumentiert eine kleine und konzentrierte Ausstellung im Heimatmuseum Charlottenburg die Geschichte der Gipsabgüsse im 19. Jahrhundert. Lange vor der Entdeckung der Fotografie diente die Gipsabformung der Reproduktion. Zwischen Original und billiger Kopie erfüllte das Medium Gips in der musealen Vermittlung von Kunstgeschichte und für den bürgerlichen Kunstkonsum vielfältige Funktionen, deren Stellenwert als authentisches Dokument gegen Ende des Jahrhunderts in eine Krise geriet: Damit kündigten sich nicht nur die Probleme des Kunstwerks im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit an, sondern zugleich das Mißtrauen in die dokumentarische Wahrhaftigkeit eines Vorläufers der Massenmedien.

Zelter schrieb 1830 aus Berlin an Goethe: »Deine Büste, die von Schiller und unserm Könige stehen überall in allen Größen und Formen auf Spinden und Konsolen der geringsten Wohnungen. Die Gipsgießer tragen sie den ganzen Tag mit großem Geschrei durch die Straßen [...] Alle drei Büsten kaufst Du um sechs Silbergroschen, [...] man glaubt wohl, der Gips wäre nicht damit bezahlt.« Grafiken zeigen das so wohlfeile Triumvirat des Nationalstolzes auf den Brettern der Gipsausrufer schwankend. Neben der Prominenz für das heimische Pantheon wurden kleine antike Statuetten und Kleinplastiken im Stil der Berliner Bildhauerschule angeboten.

Gips gab das unzugängliche und unerreichbare wieder, erlaubte das ferne Leuchtende in die Wohnung zu holen. Der bronzierte Gipsabguß einer populären Bronzeplastik von August Kraus' Sandalenbinderin läßt die Ambivalenz dieses Vervielfältigungsverfahrens aufschimmern: erlaubte er den Künstlern einerseits einen erschwinglichen Handel mit Kopien, stand andererseits der Fälschung und der Inflation der Raubabgüsse nichts im Wege.

Im 19. Jahrhundert beanspruchten Kunstsammlungen und Museen einen universellen Überblick über die Geschichte der Kultur zu geben: Lücken im Bestand der Kunstwerke wurden mit Kopien aus Gips aufgefüllt. Sowohl das 1830 von Schinkel gebaute »Alte Museum«, als auch das »Neue Museum« von Stüler beherbergten Abgußsammlungen, die die Geschichte der Skulptur in ihren Höhepunkten wiedergaben. Diese Praxis, Originale neben Kopien zu präsentieren, wurde schließlich von zeitgenössischen Künstlern angegriffen; sie waren auf ein eindeutiges Wertgefälle zwischen Original und Kopie angewiesen. Aus den öffentlichen Sammlungen ausgemustert, erfüllten die Gipskopien in Lehrsammlungen und als Modell in Kunstschulen und Ateliers zwar weiterhin, wie schon Jahrhunderte zuvor, ihre Aufgabe in der Tradierung des klassischen Formenkanons.

Ein Miniaturmodell des Westgiebels vom Zeus-Tempel in Olympia, das um 1890 unter der Anleitung des Berliner Bildhauers Richard Grüttner gegossen wurde, verweist auf die Geschichte der Gipsformerei Charlottenburg. Die Funde der archäologischen Ausgrabungen in Olympia, die 1874 unter preußischer Leitung begonnen hatten, waren laut Vertrag der griechischen Regierung zugesichert, die dafür der Berliner Gipsformerei das Exklusivrecht der Abformung und des Vertriebs von Kopien überließ. Die Nachfrage nach den olympischen Stücken ließ sich in der bisdahin in der »Neuen Münze«, nahe dem Alexanderplatz untergebrachten Gipsformerei nicht mehr befriedigen. Ein eigenes Werkstattgebäude mit genügend großen Archiven für den Formenfundus, das Kapital der Gipsformerei, wurde nahe dem Charlottenburger Schloß gebaut und konnte 1891 bezogen werden.

Die Totenmasken von Friedrich dem Großen und von Heinrich Zille, eine Vitrine mit Handabgüssen »nach dem Leben« des Malers Menzel und des Komponisten Liszt belegen, daß der Gips nicht nur der Kunstgeschichte als frühes Massenmedium diente. In den Masken und Büsten von Personen öffentlichen Interesses lassen sich Verwandte des Zeitungsfotos, des Starposters und der signierten Postkarte sehen. Goethe pflegte laut Überlieferung Künstlern, die Prominentenporträts sammelten, mit dem Hinweis auf eine Gipsmaske abzuwimmeln, die ihm 1807 Carl Gottlieb Weisser abgenommen hatte.

Der Abdruck diente den Künstler als Modell und Herausforderung: es galt die dokumentarische Form aus dem Stadium des banalen Abklatsches zu befreien und ästhetisch durchzuformen, um sich vom anatomischen Schaubuden-Naturalismus abzusetzen. Eine Reproduktion zeigt Menzels Gemälde Atelierwand von 1872: geisterhaft wirkt der Blick auf die Gipsmodelle. Von unten spärlich beleuchtet, schimmert nur ein weiblicher kopfloser Torso hell aus dem Dunkel der farbigen Masken, die gruselig an abgeschlagene Köpfe erinneren. Ihr Naturalismus erscheint ein Frevel an der Schöpfung, der die Rache der Gespenster herausfordert. Mit der Darstellung dieser Wand betont Menzel die Distanz seiner realistischen Darstellung zur puren Abformung.

Die Ausstellung Feiner, weißer... Gips! geht auf eine Initiative von Sybille Einholz, Spezialistin für die Geschichte der Berliner Bildhauerschule, zurück. Das Heimatmuseum Charlottenburg stellte seine Räume zur Verfügung, da die Stiftung Preußischer Kulturbesitz keine Möglichkeit der Realisierung sah. Sybille Einholz setzt sich mit ihrem Konzept für eine kunstsoziologische Aufarbeitung des Kunstkonsums im 19. Jahrhundert ein, der hier nur angerissen wird, und sie fordert eine Aufwertung des Gipses. Nicht zuletzt könnten die Gipsmodelle und Abformungen, die heute oft als Ballast der Museumsdepots angesehen werden, als Zeugnisse früherer Zustände eines durch die aggressiven Umwelteinflüsse beschädigten oder gewaltsam zerstörten Werkes dienen.

In der kompakten Inszenierung, die mit Ensembles aus kleinen Skulpturen, mit Fotografien und Druckgraphik die unterschiedlichen Funktionen der Gipsabformung illustriert, war es nicht möglich, einen Bogen zum Gips als wiederentdeckten Werkstoff in der zeitgenössischen Kunst zu schlagen. Für seine heutige Verwendung aber stellt die Reflektion seiner Geschichte eine Herausforderung dar, die Doppeldeutigkeit der Vereinbarungen im Umgang mit Original, Kopie, Entwurf und Modell zu thematisieren. Katrin Bettina Müller

Feiner, weißer ... Gips! — Zur Bedeutung eines umstrittenen Materials im Heimatmuseum Charlottenburg, Schloßstraße 69, Di. bis Fr. 10 bis 17 Uhr, So. 11 bis 17 Uhr. Bis 4. August.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen