: Wohnen auf Müll Warten auf Wohlstand
■ Vor allem Roma aus Rumänien versuchen, der Armut in ihrem Heimatstaat durch Flucht in die Bundesrepublik zu entgehen. Doch der Wohlstandsstaat zeigt sich wehrhaft. Ohne Visum endet für die...
Wohnen auf Müll Warten auf Wohlstand Vor allem Roma aus Rumänien versuchen, der Armut in ihrem Heimatstaat durch Flucht in die Bundesrepublik zu entgehen. Doch der Wohlstandsstaat zeigt sich wehrhaft. Ohne Visum endet für die meisten der Flüchtlinge die Reise ins gelobte Land an der deutsch-polnischen Grenze. Wie die CSFR hat auch Polen die Rolle eines östlichen Türstehers im Europäischen Haus übernommen, der den Einlaß verwehrt. Vor den Toren Deutschlands herrscht unterdessen das nackte Elend.
AUS SZCZECIN BASCHA MIKA
In der Nase klebt geronnenes Blut, quer über den rechten Oberschenkel läuft ein breiter Streifen zernarbter Haut, die nackten Füße stehen im Dreck, durch den sich ein Käfer quält. Der kleine Kerl streckt seinen bloßen Bauch heraus und watschelt auf seine Mutter zu. Über die schwarzgekohlte Erde treiben verbrannte Fetzen aus Stoff und Plastik. Die Frau sitzt vor der Schattenlinie eines Zeltes: ein gegabelter Ast in den Boden gebohrt, dazu ein anderer als Rückgrat, darüber Stücke von Teppich, Kunststoff, Pappe.
Das Kind kuschelt den blanken Hintern zwischen die Beine der Mutter und patscht ihr auf die Brust. Die Augen der jungen Frau wandern hinauf zu den Hügeln. Eine Landschaft aus Unrat, Schutt und Kot. Nur dürftig mit Erde oder Sand bedeckt. Fünf Meter hoch, fünzig, sechzig Meter breit, mehrere hundert Meter lang. Im Tal der Müllhalde stehen noch mehr Lumpenbehausungen.
Dritte Welt — mitten in Europa, 20 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Auf der Müllkippe der polnischen Stadt Szczecin (Stettin) bei Tanowo hocken die, deren Exodus ins gelobte deutsche Land von Grenzsoldaten gestoppt wird. Hauptsächlich sind es rumänische Roma. Nach Polen können sie ohne Visum einreisen, haben eine Aufenthaltserlaubnis zwischen 30 und 90 Tagen, müssen aber für jeden Tag 20 Dollar zusammenkriegen. Die können sie meistens noch vorweisen, die Visa für die Weiterreise in die Bundesrepublik nicht.
Möwen kreischen, stoßen herab, steigen mit vollem Schnabel wieder auf. Die Sonne brütet über den rottenden Resten einer urbanen Zivilisation und den Menschen, die auf diesem Abfall leben. Der Gestank treibt den Mageninhalt nach oben. „Wir wollen nicht nach Rumänien zurück. Wir werden warten, warten, warten“, sagt ein junger Roma, der vor einem der Zelte kauert.
Zuerst versuchen sie, legal die Grenze nach Deutschland zu passieren. Dort werden sie zurückgeschickt. Der Bundesgrenzschutz braucht dabei gar nichts zu tun. Im Abkommen über visafreien Verkehr zwischen Deutschland und Polen haben sich die polnischen Behörden verpflichtet, den deutschen Wohlstandsstaat vor Flüchtlingen zu schützen. Ohne Visa lassen sie niemanden über Oder und Neiße.
Die Roma richten sich dann irgendwo in Szczecin ein, schlafen auf dem Bahnhof, in Abrißhäusern oder — wie die rund 20 Erwachsenen mit ihren 30 Kindern hier — auf der Müllkippe. Tagsüber arbeiten Frauen und Kinder in der Stadt: Sie betteln. Auf den Stufen der Herz- Jesu-Kirche sieht man sie und in den Einkaufstraßen des Centrums. Die zerlumpten Kinder schießen auf die Passanten zu, strecken die Hände aus, ihre Gesichter verzerren sich in unendlichem Leiden. Die Polen, armuterprobt, lassen sie selten leer ausgehen. Den Zlotyschein erstmal in der Hand rutschen die Züge der Bettler wieder in ihre Kinderphysiognomie zurück. Die Wechselstube am Bahnhof tauscht am Ende eines Tages oft ganze Berge von kleinen Zlotyscheinen um. In der Regel zwischen 50 und hundert Mark pro Tag.
Eine Mädchenbluse mit Puffärmeln spannt über den schmalen Schultern des jungen Roma auf dem Müll. Wie alle hier will er nach Berlin und Asyl beantragen. Seine ganze Familie lebt da, sagt er. Mit einer ausholenden Handbewegung zeigt er auf den Dreck um sich herum, hält sich die Nase zu. „Cholera!“ flucht er. Der Name der Seuche, ein bei jeder Gelegenheit gebräuchliches Schimpfwort in Polen ist hier besonders passend. Die Flüchtlinge trinken Wasser aus einem Bach, der neben der Halde fließt; füllen es ab in rostige Kanister und schleppen es zu den Behausungen.
In Bulgarien und Rumänien warten Hunderttausende darauf, ihr Land zu verlassen, in dem sie noch nicht einmal das dürftigste Auskommen haben. Viele der rumänischen Roma zieht es an die Grenze nach Szczecin, Zgorzelec oder Guben. In Zgorzelec und Guben müssen sie über den Fluß. Erst vorgestern ist ein zehnjähriges Roma-Mädchen bei Guben ertrunken. Bei Szczecin hindert kein Wasser den heimlichen Grenzübertritt. Die Rumänen aus Bukarest, die jetzt hier vegetieren, sind bereits die zweite Generation auf der Müllhalde. Nachdem vor einigen Wochen das lokale Fernsehen die ersten Schreckensbilder verbreitet hatte, versuchte man, die sieben Familien von Tanowo in einem Haus der Stadt unterzubringen.
Der alte Bau steht an einer abschüssigen Sraße, sechs, sieben Kilometer vom Zentrum entfernt. Drinnen stinkt es nach Urin und Desinfektionsmitteln. Antoni Ciesielski, ein Mitglied des Stadtrats, inspiziert die Räume. „Überall vollgeschissen, bepißt, die Leute immer besoffen.“ Er ist auf die Roma nicht gut zu sprechen. Die beiden alten Leute, zu denen man die Flüchtlinge ohne zu fragen einquartiert hat, noch weniger. Genüßlich führen sie den Zustand der Zimmer vor: die verdreckten Matratzen, die vergammelten Essensreste, die Berge von Klamotten.
„Die Leute haben ihnen Kleider gegeben. Die meisten haben sie draußen im Garten verbrannt. Anfangs waren alle Nachbarn ja noch hilfsbereit.“ Vor zwei Wochen wurden die Flüchtlinge rausgeschmissen. Nur richtig, findet Ciesielski. „Wir haben genug arme Leute in Szczecin, überall in Polen. Wir brauchen die nicht.“ Wohin die Familien verschwunden sind, weiß niemand. Auf die Kippe bei Tanowo sind sie nicht zurückgekehrt.
Dafür sind andere dahin gekommen. Aber das wissen die Stadtverwaltung und Bürgermeister Wladyslaw Lisecki angeblich noch nicht. Sie reden nur über die Roma, die im Bahnhof schlafen. Die will die Stadt in einer Baracke unterbringen. Aber vor Jahresende wird daraus nichts, ist aus dem Rathaus zu hören.
Rund um Szczecin leuchten die Laubwälder üppig und grün, hier und da schimmert ein See. Die Roma leben zwischen dem Strandgut der Stadt. „Dafür haben wir hier unsere Ruhe.“ Der bärtige Mann stützt sich auf einen Ohrensessel, der zwischen Blechkanistern und Endlosstreifen Plastikband seine letzten Stunden fristet. „Im Wald muß man vorsichtig sein mit Feuer.“ Außerdem fürchten sie die Polizei. Wer keine 20 Dollar pro Tag vorweisen kann, muß eigentlich das Land verlassen.
Vier bis sechs Wochen bleiben die Rumänen in der Regel in Szczecin, versuchen, soviel Geld wie möglich zu machen, und erkunden die grüne Grenze zu Deutschland. Die ist lang und schlecht bewacht. Deswegen versuchen sie es hier meist ohne Schlepper, die bis zu 4.000 Dollar pro Person verlangen. „Seit Anfang des Jahres gibt es diese Schwierigkeiten“, berichtet Oberst Zgierski, Chef der Grenzmiliz von Szczecin. „Im ersten Quartal dieses Jahres haben wir 550 Menschen aus osteuropäischen Ländern beim illegalen Grenzübertritt festgenommen. Davon waren 180 Roma. Im zweiten Quartal waren es fast schon doppelt so viele: 1.086, unter ihnen 300 Roma.“
Der Strom der Armutsflüchtlinge aus dem Osten wird weiter anschwellen. Und der „freie Austausch von Menschen und Meinungen“, — einer der wichtigsten Grundsätze, die bei der KSZE in Helsinki vereinbart wurden — ist durchaus in der Lage, die CSfR, Polen und Ungarn zu destabilisieren. Das weiß man auch im Innenministerium in Warschau. Für die erwartete Einwanderungswelle aus der UdSSR glaubt man in Polen 800.000 Menschen für 14 Tage unterbringen zu müssen. Doch der Flüchtlingsbeauftragte Skoczylas möchte das Problem lieber herunterspielen. „In jedem Land gibt es so etwas. Selbst in Frankfurt leben die Drogensüchtigen zu Dutzenden in öffentlichen Toiletten.“
Milizchef Zgierski will von nur 200 bis 300 Personen wissen, die an der Grenze auf die günstige Gelegenheit warten. Andere sprechen von mehreren tausend. „Was sollen wir mit diesen Menschen machen? Wir haben nichts gegen sie. Wir können sie nur abschieben, wenn sie ein Verbrechen begangen haben.“ Aber selbst das funktioniert nicht. Die polnische Regierung hat kein Geld, um den Ausgewiesenen Flugtickets zu kaufen. Und im Zug kann man sie nicht kontrollieren. „Wir haben auch zuwenig Geld, um sie im Land zu versorgen.“ Die Hilfsorgnisationen im armen Land Polen sind mit den Armutsflüchtlingen völlig überfordert.
Einige von denen, die Hilfe dringend brauchen, klettern gegen Abend von den Müllbergen herunter und machen sich auf den Weg. Mit den Bündeln auf dem Rücken steigen sie in Tanowo in den Bus nach Szczecin. Dann weiter nach Süden Richtung Koscino oder nach Norden Richtung Buk und Stolec. An der Haltestelle zwischen Buk und Stolec steigen die Flüchtlinge aus. Oft bis zu dreißig. Sie bilden zwei bis drei Gruppen, Männer voran, Kinder hinten. Auf der schmalen Straße geht es 20 Meter zurück und dann nach rechts. 10 Meter durch hohes Gras, an kleinen Büschen und Brennesseln vorbei. Dann die Grenze: ein rostiger Zaun, ein Meter hoch, sechs Meter Sandstreifen, wieder ein kleiner Zaun. Und dann beginnt das Wohlstandsland. Zwei Kilometer weiter liegt das erste deutsche Dorf, Blankensee.
Der Oberleutnant, der für diesen Grenzabschnitt verantwortlich ist, lehnt am Grenzzaun. Er ist jung und melancholisch. „In Koscino versuchen mindestens 15 Menschen pro Tag die Grenze illegal zu passieren“, erzählt er. „Wenn wir sie fassen, bekommen sie einen Vermerk in den Paß und müssen Polen innerhalb 48 Stunden verlassen. Die Sowjetbürger machen das. Die Rumänen nie. Sie versuchen es immer wieder. Kommen zurück wie ein Bumerang und die Prozedur geht von vorne los.“ Der Oberleutnant hat extrem wenig Posten an der Grenze, ist mit Informationen aber sehr zurückhaltend. Es sind meistens seine Soldaten, die die Flüchtlinge schnappen. „Sie empfinden diese Menschen nicht als Grenzverbrecher“, meint der Leutnant. Haben die Illegalen erstmal die Hälfte des Sandstreifens hinter sich, kräht ihnen kein polnischer Grenzer mehr hinterher.
Doch dann kommen noch die Deutschen. Sie bringen immer wieder Menschen nach Polen zurück. Merkwürdig, denn wenn die Flüchtlinge auf deutschem Territorium Asyl verlangen, dürfen die Grenzbeamten sie nicht mehr abschieben. Haben die, die nach Polen zurück müssen, wirklich nie Asyl beantragt? Ein feines Lächeln umspielt die Lippen des melancholischen Leutnants: „Das ist Ihre Meinung, daß die deutschen Kollegen so lax mit dem deutschen Asylrecht umgehen.“
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