: Tatort Altenpflegeheim „St.-Martin“
Urteil im Fall „St.Martin“/ Nr 5.000 Mark Geldstrafe/ Kein Berufsverbot für die Ex-Leiterin ■ Von Colin Goldner
Am 10. Juli 1991 ging vor der 3.Strafkammer des Landgerichts München II der Prozeß gegen die ehemalige Leiterin des Garmisch- Partenkirchener Altenpflegeheims „St.Martin“ mit einem Skandalurteil zu Ende. Die 55jährige wurde zu einer Strafe von 5.000 DM wegen geringfügiger Körperverletzung verurteilt. In den wesentlichen Anklagepunkten wurde sie freigesprochen. Nicht nachgewiesen wurde ihr, daß sie die Senioren nicht im Rahmen medizinischer Notfall- Maßnahmen gefesselt hatte. Zeugen hatten ausgesagt, daß Heimbewohner gelegentlich fast rund um die Uhr ans Bett gefesselt waren. Das Gericht urteilte, allein das Pflegepersonal müsse beurteilen, ob solche medizinische Notfälle vorliegen.
Auch daß die Psychopharmaka, die die Staatsanwaltschaft „müllsäckeweise“ in St. Martin“ beschlagnahmt hatte, zur „Ruhigstellung“ der alten Menschen verwendet wurden, konnte nicht nachgewiesen werden. Zudem könne von Frau Rowell, die ja keinerlei Pflegeausbildung hat, nicht erwartet werden, daß sie Betäubungsmittel von anderen Medikamenten unterscheiden könne. Seine Mandantin habe die Betäubungsmittel „unbewußt“ bekommen, so Verteidiger Franz-Xaver Wittl in seinem Plädoyer. Der Umstand, daß jemand ohne pflegerische Ausbildung ein Altenheim leiten dürfe, könne nicht Frau Rowell zur Last gelegt werden. Ebensowenig der Umstand, daß offenbar mehrere Ärzte Betäubungsmittel in Klinik-Großpackungen für „St.Martin“ (durchschnittlich 17 Patienten) verschrieben hatten. „Die Mißstände in der Altenpflege sind mit den Mitteln des Strafrechts nicht in den Griff zu bekommen“, stellt Staatsanwalt Werner Gumann fest. Bessere gesetzliche Regelungen seien dringendst erforderlich.
Katastrophale hygienische Zustände
Die gravierenden Verstöße gegen die Personalverordnung waren ebensowenig Gegenstand der Urteilsfindung wie die katastrophalen hygenischen Verhältnisse oder die miserable Versorgung und Pflege der alten Menschen selbst. „Es war nicht Aufgabe des Gerichts zu prüfen, ob ,St.Martin‘ altengerecht geführt wurde“, so der Vorsitzende Richter Christian Schreiber in der Urteilsbegründung, „es hätte all dies Angelegenheit der Behörden sein müssen.“ Deren Vertreter aber saßen ebensowenig auf der Anklagebank wie die Hausärzte, die Angehörigen, alle diejenigen, die von den Mißständen wußten, aber nichts dagegen unternahmen. „Hätte man andere Häuser so unter die Lupe genommen, wäre noch viel mehr aufgeflogen“, meinte Verteidiger Karl-Heinz Kloppenburg — wohl zu Recht. Wieso er darin eine Entlastung seiner Mandantin sieht, bleibt unverständlich.
Dem Antrag des Staatsanwalts, der neben zehn Jahren Haft (auf Bewährung) und 15.000 DM Geldstrafe auch auf ein vierjähriges Berufsverbot plädiert hatte, wurde nicht entsprochen: Frau Rowell könnte — theoretisch — ihr Haus „St.Martin“ in ebenderselben Weise weiterbetreiben wie bisher.
In ihrem Schlußwort sagte Frau Rowell in einem tränenreichen Auftritt: „Vor meinem Gewissen kann ich bestehen, immer nur das Beste gewollt zu haben.“ Auf eine Art hat sie bestimmt das „Beste“ herausgeholt: Bei durchschnittlich 17 Patienten belief sich der Profit, den „St.Martin“ abwarf, grob geschätzt auf 40.000 DM pro Monat.
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