: Reise in eine andere Welt
■ Eine Dokumentation über Felsbilder aus Namibia im Haus der Kulturen der Welt: »Weiße Dame, Roter Riese«
Mit giraffenlangen Beinen greifen die Menschen auf den Felsbildern Namibias Raum. Sie ziehen in langen Prozessionen oder springen, laufen, jagen, flüchten. Manche Körper sind bemalt oder mit punktierten Bändern und Armreifen verziert. Bei einigen wölben sich Hintern, Brüste und Bäuche, als wären sie aus Birnen und Kürbissen zusammengesetzt; andere Leiber dagegen schießen wie einer schlanker Keil in die Höhe. Zwischen die Menschen schieben sich Tierleiber, Reihen von Giraffen und Elefanten, Antilopen, Zebras, Springböcken und Straußen. Von einer fließenden Kontur sicher umzogen, sind ihre Körper oft reicher an Binnenzeichnung als die der Menschen. Die Streifen der Zebras, das gefleckte Giraffenfell, die Bauchlinie der Antilopen scheinen nicht nur wichtige visuelle Wiedererkennungsmerkmale zu sein, sondern zugleich den Künstlern den Rhythmus ihrer Kompositionen vorgegeben zu haben. Organische Bewegung verbindet die verschiedenen Bildebenen.
Die dynamischen Felsbilder zeigen in der naturalistischen Genauigkeit und der stilistischen Reduktion deutliche Unterschiede, reichen von der konturierten, ausgemalten Gestalt bis zum gebogenen Hakenstrich als Kürzel für eine springende Figur. Übereinandergemalt überschneiden sich Tier- und Menschenleiber, manchmal das unterliegende Bild als Gestaltung nutzend: Schultern und Nacken zweier Menschen werden so zu den Flecken eines Rinderfells.
Vorgestellt wird die Felsbildmalerei Namibias in einer Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt mit farbigen Großdias, die einen Eindruck von der Farbigkeit des Granits, der Erd- und Mineralfarben vermitteln, und in schwarzweißen Grafiken. Die Ausstellung aber dokumentiert nicht nur die Felskunst, sondern zugleich die Geschichte ihrer Erforschung, die Probleme der Darstellung und Interpretation. Unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, beschäftigt sich die Forschungsstelle Afrika des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität zu Köln seit 1963 mit der Felskunst Namibias. Mit dieser Ausstellung zeigt sie einen kleinen Ausschnitt ihrer Arbeit und ehrt den dokumentarischen Fleiß des Grafikers Harald Pagers.
43.000 Einzelfiguren auf 6 km Folie habe Harald Pager im Laufe von acht Jahren in den Höhlen des Brandberges kopiert, berichtet Dr. Rudolph Kuper von der Forschungsstelle Afrika. Der 2.573 m hohe Brandberg, dessen Schluchten und Spalten als Wasserreservoir dienen, bietet in der Namib-Wüste Pflanzen und Tieren eine einmalige Lebenswelt. Dort wurden zwar schon zu Beginn des Jahrhunderts Felsbilder entdeckt, von europäischen Forschern aber nur ungenau kopiert und kaum weiter erkundet. Dem berühmtesten Bild, der White Lady, sprach man sogar den afrikanischen Ursprung ab, erklärte den weiße Bemalung tragenden Körper eines Mannes zur Gestalt einer »kretischen Frau«. Harald Pager begann 1977 für das Kölner Institut mit der Dokumentation der Felsbilder, unterstützt von zwei namibischen Mitarbeitern. Er führte Tagebuch über Klima und Botanik, dokumentierte die Fundorte auf Millimeterpapier, übertrug die Bilder auf Folien, notierte Abmessung und Farben nach einem Code. Anders als die Fotografie umgeht die gezeichnete Kopie das Problem der optischen Verzerrung durch die unregelmäßigen Felswände. Pagers Kopien gelten den Kölner Archäologen als genaueste Dokumentation. Er beschränkte sich nicht wie seine Vorgänger auf schon bekannte Motive und erkennbare Figuren, sondern verzeichnete auch die Details — undefinierbare Flächen, die vielleicht Reste einer älteren Malerei sind, abbrechende Konturen und Punkte, möglicherweise mythische Symbole, Flecken, Wischer. Pagers Genauigkeit verdankt sich nicht nur seinem Wunsch, ein wissenschaftliches Zeugnis zu liefern, sondern auch seiner visuellen Schulung: bevor er sich der Felsbilddokumentation bis an sein Lebensende 1985 verschrieb, hatte er erfolgreich als Werbegrafiker in Johannesburg gearbeitet. Sein Sinn für die minimalen Akzente, die den Sinn einer visuellen Botschaft prägen können, war geschärft.
Die französische Freskomalerin Monique Peytral, die die Malerei der Höhlen von Lascaux kopiert und in eine plastisch nachgestaltete Betonhöhle übertragen hatte, erzählte 1988 anläßlich einer Ausstellung ihrer Skizzen, wie die jahrelange Arbeit ihren eignen Stil und Rhythmus verändert habe. Die Nachahmung der archaischen Kunst wurde für sie zu einer Initiation, einer Übung von Konzentration und Meditation. Ähnlich mag es Pager in seinen acht Jahren im Brandberg ergangen sein. Läßt sich das Kopieren der schwungvollen Konturen der Antilopen und Giraffen, der musikalischen Notationen ähnelnden Gruppen kleiner Strich- und Punktfiguren, der punktierten Linien und diffusen Flecken, die manchmal wie eine Landkarte unter den Figuren liegen, anders als in der Trance des Workaholic denken? Immer neue Höhlen und Malereien entdeckten seine Begleiter Angula Shipahu und Johannes Toivo: Schier unendlich schien das Material im bisher »reichsten Felskunstgebiet der Welt«, das sicher zu den Ursprüngen menschlicher Kunst und Ausdrucksformen gehört und nun erstmals veröffentlicht werden sollte.
Die Datierung der Felsbilder ist bis heute ein ungelöstes Problem: Gängige chemisch-physikalische Analysen würden die Bilder zerstören. Eckdaten liefern archäologische Funde, die erste kulturelle Zeugnisse in Afrika auf 27.000 Jahre datieren. Für das Felsbild vom Roten Riesen, der wie ein doppelköpfiger Schemen ein vielfältiges Panorama von Tier- und Menschenzügen überschaut, ließ sich dank abgeplatzer Teile ein Alter von 3.000 Jahren ermitteln.
Kaum glaubhaft scheint es, daß unsere so differenzierte Wissenschaft vor der ungeschriebenen afrikanischen Geschichte wie vor einem Vakuum versagt und für die Felsbilder kein wann, wer und warum angeben kann. Dies ist nicht anders erklärbar, als daß diesem Gegenstand lange keine Bedeutung in der Forschung der Industrienationen zukam; die Geschichte der unabhängigen afrikanischen Staaten aber ist bisher zu kurz und zu sehr von aktuellen Problemen gezeichnet. Doch gerade für ihre Suche nach einer eigenen Identität gewinnen die Zeugnisse der eigenen Kultur an Bedeutung. Noch gibt es nach Aussagen der Kölner Forschungsstelle keine schwarzen namibischen Archäologen. Die jetzt in Berlin gezeigte Ausstellung wird an das archäologische Institut in Windhuk weitergegeben. Der erste Band einer auf sieben dicke Schwarten angelegten Dokumentation der Felsbilder, den die Kölner herausgeben, überreichte Genscher dem Namibischen Präsidenten zur Feier der Unabhängigkeit. Daß die afrikanischen Ursprünge der Kunst und Kultur über diesen Umweg als deutscher Import veröffentlicht werden, erzeugt den Archäologen Unbehagen; sie wollen nicht als Besetzer einer fremden Geschichte auftreten.
Noch weiß man nicht, ob die Bilder von einem Volk stammen, von verschiedenen Malschulen, über wieviel Generationen oder gar Epochen sie entstanden sind. Verborgen ist, warum sie gemalt wurden, ob Magie oder pragmatische Information, ob mythische Geschichtsschreibung oder private Notizen mitgeteilt werden. Selbst mit den Rückschlüssen, die sie auf Technik, Kultur und Gesellschaftsform erlauben, sind die Historiker mittels eines Computerprogramms noch beschäftigt.
Doch angesichts der Bilder verblaßt die Frage nach einem bezifferbaren historischen Abstand. Gerade das Nichtwissen erlaubt, die Bildergeschichten nach eigenen Assoziationen zu lesen. Sensibilisiert durch die Malerei der Nachkriegsmoderne a la Willi Baumeister oder Juan Miro, sind wir heute empfänglicher für die tänzerische Leichtigkeit der Chiffren, für Stilisierungen und Abstraktionsformen als die früheren fremden Betrachter. Für den heutigen Kunstbetrachter symbolisieren sie den Ursprung der Kreativität. Gerade das Wissen um ihre empfindliche Materie macht sie kostbar.
Katrin Bettina Müller
»Weiße Dame, Roter Riese — Felsbilder aus Namibia« im Haus der Kulturen der Welt, bis 23. August, Di-Do 14-18 Uhr, Fr-So 10-20 Uhr.
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