piwik no script img

Die vielen Seiten der Vielseitigkeit

Bei der Internationalen Deutschen Military-Meisterschaft fielen trotz fairer Strecke über ein Drittel der deutschen Reiter aus. Der Verband jubelt trotzdem: Ein Zeichen von Verantwortung  ■ Aus Luhmühlen Miß Schießl

Wer am Wochenende gedankenverloren durch die Lüneburger Heide spazierte, sah sich statt von unberührter Natur umgeben, plötzlich Auge in Brille einem Chemieklo gegenüber. Wer dem Bedürfnis der spontanen Flucht trotzte, die Nase in die Luft streckte und roch, kam dem Mysterium schon näher. Wer dann schließlich die Ohren einsetzte und sich sogleich mit einem todesmutigen Sprung in die Büsche rettete, sah den Grund für die seltsamen Bewandnisse: Ein schweißnasses Pferd im donnernden Galopp mit behelmten Reiter, beide recht schmutzig. Da atmet er auf, der Spaziergänger aus dem Heidedorf Luhmühlen und sagte schlicht: Military.

Military und Lüneburger Heide? Da denkt man an Nato-Manöver, Panzer und Leopard II. Was letztendlich gar nicht so weit hergeholt ist. Denn Military kommt tatsächlich von Militär. Doch statt um Kriech- und Raubtiere geht es an diesem Wochenende um weitaus angenehmere Geschöpfe — um Pferde. Um diesen friedfertigen Tieren gerecht zu werden, änderte man den Namen des Wettbewerbs vor kurzem in einen sportlichen: Vielseitigkeit. Nur ein kleines Dorf am Rande der Lüneburger Heide widersetzt sich seit Jahren allen Verbaltrends: In Luhmühlen bleibt man bei der Tradition. Vielleicht auch nur, um die 1957 zum ersten Wettbewerb angeschafften Startnummernleibchen abzutragen.

Die Reiterspiele der Neuzeit

Military entstand aus Reiterspielen, bei denen die vielseitige Ausbildung der Pferde im Kampf wichtig war. In der Neuzeit wurde sie zum festen Bestandteil der Kavalleriepferde-Ausbildung: Willenlos wie die Soldaten sollten auch die Pferde blind gehorsam sein, besonders in Wald und Flur. So ist auch heute, in der versportlichten Form des Kriegsreitens, die zirka 6,5 Kilometer lange Querfeldeinstrecke das Kernstück der Military — und der Dorn im Auge der Tierschützer.

Denn im Gegensatz zum Springreiten im Parcour sind die Hindernisse klotzig, massiv und starr. Will heißen: Wer die Hufe nicht drüber kriegt, geht zwangsläufug kapeister. Dicke Baumstämme unsichtbar hinter Hecken angebracht, schwindelerregende Gatter über Wassergräben, Teiche mit Bergaufsprung, steile Treppen und rutschige Abhänge sind das täglich Brot eines vielseitig genutzten Pferdes. Schlimme Unfälle gelten als Berufsrisiko. Wobei der, der es freiwillig wählt, wenigstens der Gefährdetere ist: Ein Reiter bezahlt einen Sturz meist mit Knochenbrüchen, manchmal mit dem Leben. Dann, wenn eine halbe Tonne Pferd mit Karacho auf ihn stürzt. Bei Pferden führen Bein- und Wirbelbrüche sowie Kreislaufschwächen direktement ins Schlachthaus.

Eben diesen Weg mußte bei den Deutschen Meisterschaften in Luhmühlen die Stute Chicona antreten: Ihr riß vor Anstrengung eine wohl vorgeschädigte Ader, sie brach tot zusammen. Dagegen kamen die Reiter diesmal glimpflich davon: Marina Loheit (Schlüsselbeinbruch), Friedrich Otto (Schreck) und Hermann Niehus (Beckenbruch) mußten nach Stürzen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Und Stürze gab es bei den internationalen German Open genügend. Von 85 Gestarteten erreichten nur 54 das Ziel. Fast ein Drittel — darunter hauptsächlich Deutsche — gaben auf. „Es wirft ein gutes Licht auf den Reitsport, wenn die Reiter ihrer Pferde zuliebe den Wettkampf abbrechen“, beschönigten die Funktionäre den noch ungenügenden Trainingszustand vor der in acht Wochen stattfindenden EM.

Vielseitige Gefahr in drei Akten

Denn der Geländekurs war keinesfalls zu schwer — die Engländer, mit erheblich gemeineren Kursen vertraut, sprachen gar von einer Galoppstrecke. Military ist mehr als Querfeldeinspringen. In einer Dressurprüfung wird zunächst die Grundgangarten und der Gehorsam des Pferdes abgetestet. Einen Tag später folgt der Geländeritt in vier Phasen: Eine Wegstrecke von fünf Kilometer zum Warmwerden, Hindernisritt auf der Rennbahn, um Sprungsicherheit zu gewährleisten, eine zweite Wegstrecke von zehn Kilometern zur Beruhigung. Dannach wird die Verfassung des Tiers überprüft. Der Ruhepuls liegt bei etwa 38 Schlägen, klettert jedoch bei Höchstbelastung auf bis zu 200 Schlägen pro Minute hoch. Geht die Frequenz nicht schnell genug runter oder zeigt das Pferd sonstige Zeichen von Unpäßlichkeit, ist das Rennen hier beendet. Denn nun folgt das Querfeldeinspringen. Wer heil und zudem fehlerfrei rauskommt, darf sich einen Tag lang erholen. Der dritte Tag bringt eine nochmalige Verfassungsprüfung mit anschließenden Parcourspringen. Der Zustand, die Frische und der Wille des Pferdes soll nochmals demonstriert werden.

„Ohne Vertrauen springt es nicht“

Die Vielseitigkeit ist ob der brutalen Unfälle als besonders tierquälerisch verschrieen. So überrascht den Unbedarften die Einschätzung von Tierarzt Dr. Karl Blobel: „Wenn ich eine Rangliste erstellen sollte über den dem Pferd angemessensten Sport, wäre die Military Nummer eins. Besser als hierbei werden Pferde nirgends behandelt.“ Das Pferd hat die Entwicklung und Domestizierung des Menschen begleitet, diente einst zur Arbeit, zum Krieg, heute zum Sport. Dabei ist es ursprünglich zum einen sowenig geeignet wie zum anderen. Blobel: „Das Pferd ist ein Freßtier.“

Das vielzitierte „Vertrauen zwischen Mensch und Tier“ scheint bei der Vielseitigkeit keine bloße Floskel zu sein. „Wenn ein Pferd kein Vertrauen hat, springt es nicht über diese Sprünge“, so Reiter Norbert Kriegisch. Wer selbst einmal vor diesen gewaltigen Hindernissen steht, ist fast gewillt, ihm zu glauben. Zwei bis drei Stunden pro Tag verbringt Kriegisch mit seinem „Billy the Hit“, um das Tier von seinen lauteren Absichten zu überzeugen. „Ich bilde meine Pferde über Jahre selber aus, und merke schon beim Aufsitzen, welche Laune es hat. Es ist immer eine Frage der Harmonie.“ Selbst bei ausgebildeten Vielseitigkeitspferden dauert es zwei Jahre, bis aus Pferd und Reiter ein Paar geworden ist. „Natürlich gibt es Tausende von Meßmethoden, doch spüren muß man es letztendlich selber“, urteilt Kriegisch.

So pervers es im ersten Augenblick klingt: Gerade die besondere Gefahr in diesem Sport schützt das Pferd letztendlich. Beim Springreiten etwa wird ein und dasselbe Tier gnadenlos einen Tag um den anderen über riesige Hindernisse gehetzt und vom Reiter kaum eines Blickes gewürdigt. Wenn schließlich die Beine weich werden — weg damit, nächstes her. Bei der Vielseitigkeit ist ähnliches undenkbar: Drei bis fünf Jahre Ausbildung, zwei Jahre Eingewöhnung, und höchstens drei große Prüfungen pro Jahr. Bestes Military- Alter für Pferde: 10 - 12 Jahre.

Das gemeinsame Auge-in-Auge- Sein mit der Gefahr verbindet die vielseitigen Paare. Nach dem Geländeritt scheint einer dem anderen dankbar. Hier steigt kein Reiter ab und drückt das Tier wortlos der Pflegerin in die Hand. Da wird selbst Hand angelegt, getüdelt, Pferd gewaschen, gelobt, trockengeführt. Militaryreiter sind von den Reitersleuten mit Abstand die angenehmsten. Wenig Starallüren, kaum High- Society-Gehabe, dafür gegenseitige Hilfestellung. Völlig verdreckt, speckig und patschnaß vor Schweiß gratuliert man sich nach dem Ritt. Zwar gibt es auch hier reizende Töchter und brave Söhne, die von Papi einen prima Zossen unter den Hintern gekauft bekommen, um fortan erfolgreich zu sein. Doch wer derart gefährliche Ritte wagt, der muß sich und sein Pferd einschätzen können. Großmut und Unvermögen scheiden denkbar schnell und meistens schmerzhaft aus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen