Der verwilderte Setzkasten

André Breton im Centre Pompidou in Paris  ■ Von Mirjam Schaub

Die Ausgestellten können am bequemsten im Liegestütz, seitlings gewürdigt werden“, kritzelt Max Ernst 1921 auf den Plakatentwurf seiner Ausstellung in der Spelunke „Au Sans Pareil“ und fügt hinzu: „Sind jedoch ihre Eizellen noch in Teilung begriffen, so führen sie lebhafte Bewegungen mit dem Hüftstütz aus.“ Was damals die Bürger der Städte in Schrecken versetzte, haben Kunsthistoriker längst als wohl(re)zensierten „Surrealismus“ eingemeindet. Im Sommer 1991 ist es André Breton (1896 bis 1966), sein literarischer Gründer, den die Pariser Ausstellung La beauté convulsive zu ihrer Pflichtlektüre erkärt.

Bebende Schönheit, das ist für Breton am ehesten eine Lokomotive großen Stils, die man jahrelang dem „Delirium des Urwalds“ überlassen hat, also der „magische Anblick dieses Denkmals des Sieges und der Katastrophe“. Surreale Schönheit: wild und aufregend muß sie sein, als das Unvereinbare sich gebärden. Schönheit muß zufällig und notwendig, bewegt und stillgelegt zugleich sein.

Was an dieser Stelle abstrakt bleibt, möchte die Ausstellung konkret darstellen. Die Idee ist einfach: man schlage einen Kreis um Bretons Sammelleidenschaft. Bizarre Masken aus Übersee, wertlose Gegenstände — von Flohmärkten ergattert —, oder auch schillernde Kolibris hat der „Gralshüter“ Breton in seinem Atelier am Montmartre gehortet, dicht an dicht mit Joan Mirós blauem Kopf (1927) oder Francis Picabias magischem Zeichen LHOOQ/M'amenez-y (1919).

Was immer Bretons theoretisch- poetische Schriften inspiriert haben könnte, wird in der Pariser Ausstellung zusammengetragen: Erstausgaben seiner literarischen Vorbilder (Arthur Rimbaud oder Guilleaume Apollinaire), zerknitterte Dada-Eintrittskarten, gesammelte Frauenhaare, Lupen und Alraunwurzeln. Insgesamt werden 530 Gemälde, Skizzen, Skulpturen und Fotografien ausgestellt, die André Bretona aufgrund seiner Freundschaft zu Max Ernst, Salvador Dali, Man Ray oder Marcel Duchamp entweder besaß oder gut kannte.

Die Ausstellungsräume sind hoffnungslos überfüllt. Den Besuchern fehlt die Orientierung. Die Veranstalter wollen der „Beauté convulsive“ Struktur geben, indem sie Bretons Sammeleien um die vier Hauptwerke drapieren: das Erste surrealistische Manifest (1924), Nadja (1928), L'Amour fou (1937) und Arcane17 (1944). Doch nur wenige Besucher haben diese Bücher auch gelesen. Verzückungen ob der Handschrift Bretons können diesen Mangel nicht beheben. Ohne Schuld der Aussteller muß das Projekt versagen, wo es Bretons geistige Entwicklung herleiten will.

Was aber können die Betrachter verstehen, akzeptieren sie, daß ihr Ariadne-Faden aus den Privatvorlieben des A.B. gewoben ist?

Da irritiert zunächst einmal, daß der „Mann mit den Seeigelwimpern“ seine libidinösen Objekte bürgerlich sorgsam gehortet und alle, nur nicht sich selbst, enstaubt hat. Noch als Unbekannter hat Breton die Originalhandschrift der Magnetischen Felder (1919), der ersten „écriture automatique“, einem bekannten Sammler verkauft, um ihren Ruhm zu sichern, sollte „der Prophet im eigenen Lande nichts gelten“. Der Mitautor Philippe Soupault hat davon nichts gewußt...

Und dann die Masken. Sie drohen hoch von den Wänden herab. Ihre wagenradgroßen Augen, viperngleich, hypnotisieren den Blick. Sie irritieren weit mehr als die quittegelben Obszönitäten des Salvador Dali. Entpuppt sich die Avantgarde der europäischen Metropolen als rührseliger Anachronismus, der sich in die Wiege der Buschvölker, nach Totem und Tabu sehnt? Womöglich ist die Hinwendung zu ursprünglichen Kultgegenständen eine allzu vertrauensselige Vereinnahmung des Fremden. Der „Art-Director“ Breton samt seiner Marx- und Freud-Lektüre verklärt mystische Symbole sehr bereitwillig zu einer denkbaren Zuflucht vor der modernen Welt. Der Vorwurf des Eskapismus ist alt. Er ist immer wieder formuliert worden, wenn die Surrealisten auf ihre Irrationalität und Tagträume pochten. Adorno hat ihnen das nie abgenommen. „So träumt man nicht. Keiner träumt so“, stellt er 1956 lapidar fest. Deshalb sind die surrealistischen Symbole auch ganz und gar rationalistisch, das heißt wirkliche Versatzstücke der modernen Welt. Max Ernsts Konzept von „objet trouvé“ ist somit mehr als das willkürliche Zusammenzwingen von Strumpfbändern, Zeitungsschnipseln oder Mariae Himmelfahrt.

Für diese Bilder wie für Bretons Sammelobjekte gilt: Es sind gigantische Fetische, Waren, die subjektiv, libidinös besetzt sind. „Was in ihnen krampfhaft innehält wie der gespannte Zug von Wollust um den Mund, ähnelt den Veränderungen, die eine pornographische Darstellung im Augenblick der Befriedigung des Voyeurs durchmacht.“ Die abgeschnittenen Brüste von Modepuppen in Seidenstrümpfen sind Erinnerungsmale, die einst die Lust erweckten. In den Collagen nun zeigt sich „das Vergessene dinghaft, tot, als das, was die Liebe eigentlich wollte, dem sie sich gleichmachen will, dem wir gleichen“ (Adorno).

In Entsprechung zu der Verlustrechnung Adornos hat André Breton sein Verlangen nach Liebe, nach „Instandsetzung“ definiert — und zwar über die Bedeutung seiner Funde. Breton bezieht sich auf das L'Objet invisible (1934) seines Freundes Alberto Giacometti, eine etwa 1,50 Meter große Frauenstatue. Als Gipsmodell ist sie auf der Ausstellung zu sehen. Die schmale kubische Gestalt, ihr trichterförmig versenkter Mund, die Augen aus gebrochenen Wagenrädern konzentrieren sich allein auf das, was zwischen ihren Händen liegen könnte, die Fingerspitzen vielleicht erahnen. Für Breton ist sie die „Emanation des Verlangens nach Liebe und Gegenliebe auf der Suche nach seinem wahren menschlichen Gegenstand und seine schmerzliche Ungewißheit“.

Jeder Fund aber rettet den verlorenen Gegenstand. Er ist der unvermutete Niederschlag des unbewußten Verlangens. Wie eine Offenbarung bricht er in das Leben, er bringt „alles, was er nicht ist, um seine Schönheit“. Der Fund ist eine List der Begierde, er ist so ungeheuerlich, da er das Unerklärliche schlagartig erhellt. Der Fund ist somit bebende Schönheit par excellence: „erotisch- verhüllt, berstend-starr, magisch und umstandsbedingt“.

So weit mag die Empathie für Bretons Setzkasten reichen, weiter nicht. Wer sich ganz dem zyklopenhaften Blickwinkel dieses Narziß verschreibt, muß das Gesehene mißverstehen. André Breton ist eben nicht zuletzt so berühmt, weil er ein Patriarch ohnegleichen war. (1926 hat er Soupault bei den Surrealisten rausgeschmissen. Der hätte entschieden zuviele Romane veröffentlicht. Was nach Zusammenhang roch und bürgerlich akzeptiert war, widerte die Surrealisten schließlich an.)

Nur nach außen gaben sich die Surrealisten undogmatisch und provokant. Mit Vorliebe verschenkten sie Blumentöpfe an wildfremde Passanten. Sie verhüllten ihre Kunst auf Vernissagen mit Luftballons, während man sich unaufhörlich begrüßte und gleichzeitig aus dem Schrank Liebesgestöhn verlautbarte. Von Anbeginn haben sie ihren Nonkonformismus vorzüglich zelebriert. Breton organisierte. Wer nicht spurte, wurde formvollendet exkommuniziert.

Wer heute eine Ausstellung zu Ehren Bretons inszeniert, will auf diese „Affairen“ keine Rücksicht nehmen. Alles an Beauté convulsive ist auf Identifikation mit dem jugendlichen Helden angelegt. Davon kündet schon das Man-Ray-Foto, das Bretons Profil weithin sichtbar an der Außenfront des Pompidou aufzäumt. Damit auch der letzte Witz getilgt sei, verzichtet der Veranstalter auf die spiegelbildliche Schreibweise des Vornamens, wie sie noch die Einladung zierte.

Die Ausstellung zeugt ganz und gar nicht von der „letzten Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, wie Walter Benjamin 1929 den „Sürrealismus“ noch begreift. Er ist heute keine Traumwelle mehr, voll der Bilder und Laute, die sich auftürmen vor jedem klar definierten Sinn. Und vor allem: ästhetische Theorie und Lebenspraxis sind weiterhin entzweit.

Bildungsbeflissen starren wir heute auf die Werke des Surrealismus. Kunst — ja, Bewegung — nein danke. Das Objekt unserer Begierde bleibt bis auf weiteres ausgespart.

Bis zum 26. August 1991;

Katalog 500 Seiten, 450 Francs