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EG plant Energie-Binnenmarkt bis nach Sibirien

Im Dezember soll „Gesamteuropäische Energiecharta“ unterzeichnet werden/ Zugriff auf Ost-Rohstoffe gegen Know-how  ■ Aus Berlin Gerd Rosenkranz

Für die einen ist der Plan ein wahres Wunderding, das „allen Bürgern Europas Gewinn bringen“ wird. Für die anderen ein entscheidender Beitrag zur „Kolonisierung Osteuropas unter dem Deckmantel von Umweltschutz und Wirtschaftshilfe“. Und für die Regierungen von Warschau bis Moskau bislang nicht viel mehr als ein vages Angebot, über das mit ihnen noch niemand offiziell ein Wort gewechselt hat. Aber das soll ab heute anders werden.

Die Rede ist vom Entwurf einer „Europäischen Energiecharta“ (EEC), den die EG-Kommission nach einem Vorstoß des niederländischen Premierministers Lubbers im Februar dieses Jahres vorlegte. Hohe Regierungsbeamte aus mindestens 35 Ländern wollen von heute an in Brüssel letzte Hand daran legen. Mit der Charta bereitet die EG für den Energiesektor nicht mehr und nicht weniger vor, als die möglichst zügige Ausweitung des für 1993 anvisierten europäischen Binnenmarkts bis über den Ural hinaus.

Die Grundidee, die sich hinter diesem gigantischen Plan zur Internationalisierung des gesamteuropäischen Energiemarkts verbirgt, ist denkbar einfach: Westeuropa verfügt über technisches Know-how, das nötige Kleingeld und die größten Energieabsatzmärkte, Osteuropa — insbesondere die Sowjetunion — über die weltweit größten Rohstoffressourcen. Warum also nicht beides zum gegenseitigen Nutzen zusammenkoppeln? Westeuropa wäre damit, wie es Peter Palinkas in einem Hintergrundpapier der Generaldirektion Wissenschaft der EG formuliert, die „zunehmende Sorge über die mangelnde Versorgungssicherheit auf dem Energiesektor“ (gemeint ist vor allem die Ölversorgung aus dem mittleren Osten) genommen; Osteuropa könnte aus den Erlösen für einen anschwellenden Erdgas-, Kohle- und Erdölstrom einen Teil der gewaltigen Investitionen aufbringen, die zur Modernisierung der dortigen Energiewirtschaft notwendig sind. Diese Summe wurde kürzlich auf zwei Billionen (2.000 Milliarden) US-Dollar für die kommenden fünfzehn Jahre geschätzt.

Praktisch als Nebeneffekt soll von dem durch die Kooperation ausgelösten Modernisierungsschub auch noch die Umwelt in Osteuropa profitieren, behaupten die Brüsseler Verfechter der Energiecharta. Fossil befeuerte Dreckschleudern würden mit Filtern ausgestattet oder durch moderne umweltverträglichere Anlagen ersetzt. Westliche Hochtechnologie könnte der Energieverschwendung im Osten einen Riegel vorschieben. Außerdem, so die schöne Vision der EG-Kommissare, werde die „Verwirklichung eines großen europäischen Energiemarktes“ das gegenseitige Interessengeflecht entscheidend festigen und so ein neues „Vertrauensklima zum wechselseitigen Vorteil“ zwischen den einst verfeindeten Blöcken schaffen.

Ob das gesamteuropäische Energiegeschäft, das natürlich streng marktwirtschaftlichen Spielregeln unterliegen soll, in der Realität tatsächlich beiden Seiten zum harmonisch-ausgewogenen Vorteil gereichen wird, bezweifelt nicht nur die grüne Europaabgeordnete Hiltrud Breyer. Die meinte kürzlich, mit der geplanten Charta wollten sich westliche Energiewirtschaft und (Atom- )Anlagenbauer „in erster Linie selbst helfen“: Und zwar mit der Modernisierung östlicher Atomkraftwerke einerseits und der Erschließung und Nutzung der Energieressourcen vor allem der Sowjetunion andererseits.

Zwar sei „unbestreitbar, daß die Charta dazu beitragen könnte, die Umweltbelastung in Osteuropa kurzfristig zu senken“, räumt auch Breyers Mitarbeiter Klaus Dräger in einem Grundsatzpapier zur „energiepolitischen Kolonisierung des Ostens“ ein. Mittel- und langfristig sei jedoch die „Zementierung einer ineffizienten und immer noch stark umweltbelastenden Energiestruktur wie in Westeuropa“ die unausweichliche Folge. Denn, so Dräger, die von der EG-Kommission verbal proklamierten Ziele „Energieeffizienz“ und „verstärkter Energietransit“ in kontinentalem Maßstab seien nicht unter einen Hut zu bringen. Transitnetze, insbesondere für (Atom- )Strom seien eben immer mit hohen Verlusten verbunden. Damit nicht „Umwelt und VerbraucherInnen am Ende die Zeche zahlen“, verlangt die Abgeordnete Breyer, die dem Ausschuß für Energie, Forschung und Technologie des EG-Parlaments angehört, statt einer Europäischen Energiecharta eine Energiesparcharta. Die müsse alle Bausteine eines umweltfreundlichen, effizienten und dezentralen Energiesystems für Osteuropa enthalten.

Gewinn soll fließen

Daß den Brüsseler Eurokraten anderes vorschwebt, scheinen insbesondere jene Passagen des Charta-Entwurfs zu belegen, die den hehren Zielen nachgeordnet sind. Dort verlangen die EG-Kommissare nicht nur den Schutz künftiger Investitionen im Osten, sondern auch „das Recht auf Repatriierung von Gewinnen“. Bei der Erschließung der ausländischen Rohstoffressourcen dürften für die Betreiberunternehmen auch keine „diskriminierenden Bedingungen vor allem bezüglich des Eigentums- und Vermögensrechts“ geschaffen werden. Mit andern Worten: Wer den Mut aufbringt, sich im maroden Rußland zu engagieren, soll dann auch Schalten und Walten können, wie er will.

Und noch eins haben die Initiatoren der Energiecharta in ihrem Entwurf klar gemacht: Sie wollen keine unverbindliche Absichtserklärung, sondern ein Papier, das die östlichen „Partner“ auf eine langfristige und verbindliche Kooperation festlegt. Die soll in „spezifischen Abkommen“ festgelegt werden, die kaum übersehbar die Interessenlage der westeuropäischen Energiekonzerne und Anlagenbauer spiegelt. An erster Stelle steht die „Kernenergie und Verbesserung der Reaktorsicherheit“, ein Geschäft, auf das vor allem Siemens/KWU und die französischen Reaktorbauer von Framatome seit langem spekulieren. Außerdem soll es in den Abkommen um die „Ausbeutung der Erdgas- und Erdölvorkommen“, die „Modernisierung der Kraftwerke, Netzverbund und Elektrizitätstransport über Hochspannungsnetze gehen“. Über letztere könnte dann mittelfristig überschüssiger Atomstrom von der Rhone durch ganz Europa nach Warschau, Budapest oder Kiew geleitet werden — oder in umgekehrter Richtung, wenn Siemens/KWU künftig AKWs nicht mehr in Brokdorf oder Neckarwestheim, sondern in Bjelorußland baut.

„Die Sowjetunion und die Staaten Osteuropas“, fürchtet Klaus Dräger, „haben fast gar keine Wahl, als sich auf das Spiel einzulassen“. Die chronische Finanzmisere, ein ebensolches Know-how-Defizit und eine Berg ökologischer Probleme machen aus den windigen Verlockungen des Westens den „einzigen Rettungsanker im wirtschaftlichen Chaos“. Der Preis allerdings wird immens sein: Eine jahrzehntelange strukturelle Abhängigkeit vom Westen und eine immer noch umweltschädigende Energiestruktur.

Nach zähen Verhandlungen verständigten sich die EG-Außenminister Mitte Juni darauf, neben allen europäischen Ländern auch die OECD-Länder der sogenannten Gruppe der 24 — darunter die USA, Kanada, Japan und Australien — zu der heute beginnenden Vorbereitungskonferenz nach Brüssel zu laden. Die Maghreb- und Golfstaaten sollen als Beobachter teilnehmen können, wenn sie es denn wollen.

Nach der Vorbereitungskonferenz in dieser Woche soll dann alles hopplahopp gehen. Möglicherweise schon im Dezember wollen die großeuropäischen Energieplaner — „zur Krönung der holländischen EG- Präsidentschaft“ (so das Hintergrundpapier der Generaldirektion Wissenschaft) — die Charta in Den Haag feierlich von den Regierungschefs signieren lassen. Was die Partner im Osten von derlei Planspielen mit zweifellos systemsprengenden Konsequenzen tatsächlich halten, wußte allerdings im Vorfeld der Brüsseler Vorbereitungskonferenz in dieser Woche niemand so genau. Vor lauter Eile hatte man versäumt, sie zu fragen.

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