Initiative der Woche: Krisen-Hilfe von Unten

Seit Jahren versorgen Freiwillige die südafrikanischen Armenviertel medizinisch. Durch Corona droht die Situation dort zu eskalieren. Ein Gastbeitrag zweier Aktivistinnen bei medico international.

Soldaten kontrollieren im Johannesburger Viertel Alexandra die Einhaltung der Ausgangssperre Bild: dpa

Ein Gastbeitrag von USCHE MERK und ANNE JUNG

Diese Gesundheitskampagne war bereits startklar, als das Coronavirus sich auf dem Planeten auszubreiten begann: Landesweit planten die Community Health Worker (CHW) in Südafrika Protestaktionen gegen ihre gefährlichen Arbeitsbedingungen.

Seit Jahren versorgen die CHW Kranke und Menschen mit hohem Ansteckungsrisiko in gewaltgeprägten Armenvierteln. Tausende Community Health Worker sind bereits durch ihre Arbeit selbst erkrankt oder wurden während ihres Dienstes tätlich angegriffen. Durch Corona drohen diese Gefahren zu eskalieren: Es gibt erste Berichte, dass CHW ohne ausreichende Vorbereitung und Schutzkleidung in die Gemeinden geschickt werden, um Infizierte und ihre Kontaktpersonen nachzuverfolgen.

Während der Apartheid waren Community Health Worker (CHW) Teil der oppositionellen Gesundheitsarbeit und bezogen sich auf das Konzept einer Basisgesundheitsversorgung, das die Beteiligung der Communities und der direkt Betroffenen vorsah. Die Menschen sollten ihre Gesundheitsbelange selbst formulieren und sich für ihre Umsetzung einsetzen.

Das Ziel der ersten 1994 demokratisch gewählten Regierung unter Nelson Mandela, den flächendeckenden Zugang zu Gesundheit umzusetzen, scheiterte jedoch bald: Zum einen an der rasant wachsenden Aids-Krise – aber auch an einer neoliberalen Wende nach 1996, in deren Folge die Teilung des Gesundheitswesens in einen boomenden Privatsektor und einen defizitären öffentlichen Bereich eingeleitet wurde. In der Folge verschwanden die meisten emanzipatorischen Gesundheitsprojekte.

Community Health Worker kompensieren staatliches Versagen

Im Zuge der AIDS-Krise, die eine riesige Mehrbelastung des Gesundheitswesens mit sich brachte, wurden ab Anfang 2000 Zehntausende Community Health Worker als Freiwillige angeworben, um die Kranken in den Armutsvierteln zu Hause zu versorgen. Auf diese Weise lagerte die staatliche Gesundheitsversorgung die Verantwortung aus, die AIDS-Kranken wurden in der Öffentlichkeit unsichtbar und die Community Health Worker zu einem festen Bestandteil des Systems, ohne die die flächendeckende Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten in den letzten 10 Jahren nicht möglich gewesen wäre.

Allerdings arbeiten CHW als „Freiwillige“ ohne Arbeitsrechte, anständige Arbeitsbedingungen und angemessene Bezahlung. Dagegen wehrten sich die CHW zunehmend und begannen, für Anerkennung und bessere Bedingungen zu kämpfen.

Seit mehr als sechs Jahren unterstützt medico diesen Selbstorganisierungsprozess der CHW durch ein Netzwerk von landesweiten Gesundheitsorganisationen wie section27, People’s Health Movement, Khanya College, Sinani und andere, die die CHW fortbilden und organisatorisch begleiten. 2019 gab es das erste nationale Gipfeltreffen von 300 CHW Vertreter*nnen aus allen 9 Provinzen.

Und nun Corona

Der erste nachgewiesene Coronafall in Südafrika am 1. März war ein Italienurlauber aus der Oberschicht. Bereits am 28. März gab es schon 1187 Fälle und es wird deutlich: Das Virus ist im Land angekommen und verbreitet sich schnell, inzwischen auch in Khayelitsha und anderen Townships, in denen die armen Südafrikaner*innen wohnen.

Die hochgerüstete Grenze zwischen Arm und Reich, die die abgeschotteten Villenviertel von den Armensiedlungen trennt, ist für das Virus in alle Richtungen durchlässig, denn es gibt keinen reichen Haushalt, der nicht zahlreiche Hausangestellte aus den Armenvierteln beschäftigt.

Einmal in den riesigen Townships und informellen Slumsiedlungen angekommen, wo die Menschen auf engstem Raum zusammenleben, wird sich das Virus rasant verbreiten.

Die Regierung hat schnell reagiert: Seit dem 27. März gibt es eine radikale dreiwöchige Ausgangssperre, um die Ausbreitung zu bremsen und den Ausbruch so zu kontrollieren, dass er das Land und das Gesundheitssystem nicht überfordert. Ein ehrgeiziges Ziel.

Eine der größten Ungleichheiten der Welt

In einem Land mit einer der größten Ungleichheiten der Welt bedeutet die Ausgangssperre für Millionen Menschen, die durch Tätigkeiten im informellen Sektor überleben, eine sofortige Existenzbedrohung. Zuhause bleiben, soziale Distanz halten und Hygienemaßnahmen befolgen ist für Menschen, die kein fließendes Wasser haben und zu zehnt oder mehr auf engstem Raum zusammenleben, auch beim besten Willen fast nicht umsetzbar.

Die Menschen haben zwar bisher großes Verständnis für die Maßnahmen der Regierung gezeigt, doch erste Berichte, wonach Polizei und Militär die Menschen aggressiv in ihre Häuser zurückgetrieben haben, sind besorgniserregend. Ohnehin weist Südafrika eine sehr hohe Gewaltrate auf – nicht zuletzt der häuslichen Gewalt.

Hunderte von zivilgesellschaftlichen Organisationen, darunter Gewerkschaften, die Organisationen von informellen Arbeiter*nnen, Gesundheitsbewegungen und Gemeindestrukturen haben jetzt einen beeindruckenden Aufruf gestartet. Darin appelieren sie an alle, dabei mitzuhelfen, dass die Epidemie aufgehalten wird, die Übertragungen reduziert und die sozialen, ökonomischen und politischen Folgen abgemildert werden.

„Es geht um drastische Maßnahmen, wenn wir eine Katastrophe verhindern wollen. Jede/r von uns muss jetzt handeln“, heißt es in der Erklärung. Der Appell stellt auch die Forderung nach Einkommenssicherheit (Gehaltsfortzahlungen auch für Hausangestellte, staatliche Sozialhilfe, Stundung von Krediten) und dem Zugang zu Wasser und Seife. Private Einrichtungen und Ressourcen der Daseinsvorsorge (wie Gesundheitsversorgung, Nahrungsmittelproduktion, aber auch die Produktion von Hygiene und Gesundheitsmaterial) sollen allen Menschen zur Verfügung stehen, um eine einheitliche und faire Verteilung der Ressourcen und Dienstleistungen sicher zu stellen.

Zivilgesellschaftliches Engagement

In den nationalen Krisenstäben müssen, so der Appell, auch zivilgesellschaftliche Bewegungen vertreten sein. Auch wenn sie die wichtige Rolle der Regierung anerkennen, Maßnahmen zu koordinieren und Ressourcen zu verteilen, verlangen die Unterzeichnenden die Achtung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Maßstäbe und rufen zu einer starken öffentlichen Bewegung von unten auf. Diese Bewegung solle darauf achten, dass in einer ungleichen Gesellschaft alle Schutzmaßnahmen gleich verteilt werden.

Insbesondere müssten diejenigen geschützt werden, die besonders gefährdet sind – weil sie jetzt schon hungern, ein geschwächtes Immunsystem ( 7,7 Millionen Menschen in Südafrika leben mit HIV und 300 000 haben offene Tuberkulose)und schlechten Zugang zur Gesundheitsversorgung haben. 

Besondere Forderungen gibt es in Bezug auf die etwa 70.000 Community Health Worker, die bei der Aufklärung, Mobilisierung und Nachverfolgung von Coronainfektionen eine zentrale Rolle spielen sollen.

Sie sollen gut ausgebildet und ebenso wie das Gesundheitspersonal in den Kliniken mit Schutzkleidung ausgestattet werden. Schon bei der HIV-Krise stellten die CHW eine wesentliche Brücke zwischen den Gemeinden und dem Gesundheitssystem dar, durch die es gelang, flächendeckend antiretrovirale Medikamente einzusetzen und die AIDS-Sterberate drastisch zu senken. Doch die Bedingungen, unter denen die CHW arbeiten – mit befristeten Verträgen zu Minilöhnen ohne soziale Absicherung und ohne Schutzkleidung – sind menschenunwürdig und beuten das große Engagement und Mitgefühl der fast ausschließlich weiblichen Gesundheitsarbeiter*innen aus.

Für Südafrika steht alles auf dem Spiel

Die Mammutaufgabe der Pandemiebekämpfung können weder die Regierung, noch die zivilgesellschaftlichen Organisationen alleine schaffen. Südafrikas Gesundheitssystem ist, ebenso wie das Land, extrem gespalten und ungleich. Im privaten System werden circa 80% der Ressourcen für circa 15% der Patient*innen eingesetzt. Das öffentliche System hat 20% der Ressourcen für 85% der Patient*innen zur Verfügung.

In einem weiteren zivilgesellschaftlichen Aufruf direkt an das private Gesundheitswesen und die Privatwirtschaft heißt es: „Wir können es nicht zulassen, dass die Ungleichheiten in unserem System den Umgang mit der Covid-19-Epidemie bestimmt. Wir brauchen die Öffnung des privaten Gesundheitssystems. Wir brauchen Krankenhausbetten, Material, Geräte, und Personal, das es bedienen kann. Wir brauchen die Produktion von Schutzkleidung, Hygieneprodukte und Nahrungsmittel. Wir brauchen Hotelbetten, Schulen und Konferenzzentren für Quarantänemaßnahmen. Wir brauchen finanzielle Unterstützung. Wir brauchen privatwirtschaftliche Umverteilung und Unterstützung der Regierung, um das Gesundheitssystem für die anstehenden Aufgaben vorzubereiten.“

Für Südafrika steht alles auf dem Spiel. Gelingt es, alle Ressourcen des Landes zu mobilisieren und mit der Pandemie gemeinsam und solidarisch umzugehen oder werden die Mauern der Ungleichheit mit Polizeigewalt verteidigt und verschärft und damit die gefährdeten Covid-19 infizierten Menschen in den Armensiedlungen sich selbst überlassen?

Dafür braucht die Gesundheitsbewegung in Südafrika unsere Solidarität. Spenden können helfen, aber ebenso wichtig sind Öffentlichkeit und politischer Druck für eine wirklich globale Krisen- und Gesundheitspolitik, in der die Armen und Marginalisierten dieser Welt nicht erneut die Hauptlasten tragen.

Usche Merk und Anne Jung arbeiten bei der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international, die derzeit Gesundheitsorganisationen auf drei Kontinenten bei der Eindämmung des Corona-Virus unterstützt.

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