Neue Begriffe, neue Haltungen: Was war noch mal: die Linke?

Gegenclowns wie Corbyn, Politikfolkloristinnen wie Naomi Klein, Theorie-Hochstapler wie Varoufakis: Wir brauchen eine neue und zeitgemäßere Form der politischen Differenzierung als „links“ und „rechts“.

XXXII. Hand mit Kohlenstaub bedeckt (Sibiu, Rumänien). Aus der Serie HUMAN Bild: Gábor Arion Kudász

Von Harald Welzer

»Die Arbeit ist nicht die Quelle des Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr die Quelle der Gebrauchswerte (...) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.« Tja, hätte man Das Kapital nicht immer nur unter dem Vorzeichen der sozialen Frage gelesen, sondern auch der naturalen, wäre man vielleicht die nächsten hundert Jahre in einige Sackgassen nicht gelaufen. Aber auch wenn der olle Marx diese richtigen Sätze seinerzeit gegen die Sozialisten formuliert hat, blieb die Linke doch weitgehend ökologisch blind, zum Teil bis heute. Aber um gerecht zu bleiben: Auch alles, was sich nicht als links verstand – denken wir nur an die C-Parteien oder gar an die FDP –, hat die ökologische Frage immer nur dann zur Kenntnis genommen, wenn es gar nicht mehr anders ging. Von sich aus nie. So betrachtet war bis auf wenige individuelle Ausnahmen die naturale Grundlage der sozialen Verhältnisse eigentlich nie ein Thema im westdeutschen Parteienspektrum, was vor vier Jahrzehnten – nach den Grenzen des Wachstums und mit der Anti-AKW-Bewegung – das Momentum der Grünen war. Aber auch die haben in ihrer Geschichte einen starken Move von der gesellschaftskritischen Bewegungspartei hin zur systemaffinen Staatspartei gemacht – und ist die eigentlich links?

Dieser Beitrag stammt aus

taz FUTURZWEI N°12

Vielleicht ist schon die Frage falsch. Was sagt denn eine Sortierung des politischen Spektrums (sie geht übrigens auf die Sitzordnung der französischen Nationalversammlung 1789 zurück) nach der Position in der sozialen Frage darüber aus, welche politische Haltung jemand zur Ökologie, zum Klima, zur Nachhaltigkeit, zum Wachstum, zur Freiheit, zur Zukunftsfähigkeit überhaupt einnimmt? Ist es nicht viel eher so, dass man etwa diejenigen, die sich pointiert zu solchen Themen äußern, in links/rechts-Schemata kaum einordnen kann – ist Niko Paech links? Hartmut Rosa? Ulrike Guérot? Naika Foroutan? Ah, wir kommen auf eine Spur. Womöglich sind Themen wie Postwachstum, Entschleunigung, Europa, Migration genauso wenig wie die ökologische Frage linke oder rechte Themen, sondern einfach die, die sich im 21. Jahrhundert stellen, zumindest in den reichen Gesellschaften.

Umgekehrt: Sind Donald Trump, Jair Bolsonaro, Boris Johnson eigentlich rechts? Noch eine Spur: Womöglich ist deren Radikalität in der Zerstörung der Überlebensgrundlagen einfach nur räuberisch und in diesem Sinn postpolitisch – wahrscheinlich verstehen wir diese Leute falsch, wenn wir ihnen Ideologie unterstellen (die Schriftstellerin A. L. Kennedy hat Boris Johnson gerade als »Popo, der Todesclown« bezeichnet, das kommt der Sache näher).

An beiden Polen des politischen Spektrums differenzieren rechts und links das Entscheidende nicht mehr

Heißt: an beiden Polen des politischen Spektrums differenzieren rechts und links das Entscheidende nicht mehr. Das Entscheidende im 21. Jahrhundert ist ja die Frage, ob es gelingt, das Primat zu wechseln – von der wirtschaftlichen zur ökologischen Frage. Und zu verstehen, dass jede funktionierende, weil dienende Wirtschaft vom Vorhandensein einer halbwegs intakten Natur – als Quelle aller Gebrauchswerte – abhängig ist.

»Links« zu sein, ist gegenüber dieser Problemstellung bestenfalls nostalgisch, und dafür ist ein Indikator, dass man sich gern schon als links versteht, wenn man die identitätspolitisch sicheren Sätze beherrscht. Ein weiterer Indikator sind traurige Gegenclowns wie Jeremy Corbyn, der nicht mal eine Haltung gegenüber dem hyperreaktionären Brexit einzunehmen in der Lage war, oder Olaf Scholz mit seiner Satire auf eine Transaktionssteuer – sind Sozen noch irgendwo, an irgendeiner Stelle, in irgendeiner Facette links? Und ein dritter ist die Prominenz von Theorie-Hochstaplern wie Yanis Varoufakis oder Politikfolkloristinnen wie Naomi Klein, die aber auch jede Idee schuldig bleibt, wie ihr famoser Green New Deal auf den realpolitischen Weg gebracht werden soll (und natürlich hat sie keine Ahnung davon, wie eng dieser Deal an exakt das Kapitalverhältnis gebunden wäre, das sie so engagiert kritisiert – im Kern war der New Deal Roosevelts ein Programm zur Förderung des Konsums). »Links«, so lässt sich nicht ohne Melancholie zusammenfassen, hat leider nix mehr auf Tasche.

Und jetzt hör ich schon: Waaas? Das spielt doch der AfD in die Hände, sowas zu sagen! Nee, denen spielt nur in die Hände, dass man sie pausenlos durch Kenntnisnahme aufwertet. Eigentlich sind sie ja nur eine Petitesse, die eine wache Demokratie aushalten kann. Aber eine wache Demokratie braucht zukunftssensible Freundinnen und Freunde, die so eine rechte Anachronistentruppe nicht zur Bedrohung hochjazzen, vor allem deshalb, weil sich eben gegen rechts noch probat definieren lässt, was links ist. Aber, bitte, das Ibiza-Video hat doch gezeigt, was das für Leute sind, nämlich postpolitische Präpotente, die auf die kontraphobische Reaktionsbildung spekulieren, dass alles, was von rechts kommt, brandgefährlich ist und deshalb rauf und runter zurückgewiesen werden muss – solange bis auch der Letzte mitgekriegt hat, dass Gauland »Vogelschiss« gesagt hat. Diese Strategie ist seit Jörg Haider bekannt und erfolgreich. Also könnte die intelligentere Strategie ignorieren sein, als sich hier zu verkämpfen, nur um sich zu vergewissern, wer man ist.

Wir brauchen eine neue, trennschärfere, zeitgemäßere Form der politischen Differenzierung

Und sich Wichtigerem zuzuwenden.

Die Aufgabe ist groß: Wir brauchen eine neue, trennschärfere, zeitgemäßere Form der politischen Differenzierung. Zwischen zukunftsfähig und zukunftsuntauglich, lebensfördernd und lebensbedrohend, konstruktiv und destruktiv. Das schließt, wohlgemerkt, die soziale Frage ein – zumal wir wissen, dass die sozial Benachteiligten in aller Regel auch die ökologisch Benachteiligten sind. Insofern ist die soziale Frage gerade unter Bedingungen sich gleichzeitig radikalisierender sozialer und ökologischer Ungleichheiten auch in diesem Jahrhundert keineswegs obsolet, ganz im Gegenteil. Aber anhand des peinlich gescheiterten »Aufstehen«-Projekts von Sahra Wagenknecht und an den Gelbwesten-Protesten in Frankreich kann man klar sehen, dass »linke« Positionen ohne Berücksichtigung des ökologischen Referenzrahmens leider schnell ins Faschistoide tendieren – was den meisten Linken so schnell nicht auffällt, weil ja »links« draufsteht und es gegen etwas irgendwie »rechtes, weil neoliberales oder so ähnlich« zu gehen scheint.

In summa: Klima- und wirtschaftspolitisch darf man durchaus konstatieren, dass die konventionellen politischen Eliten sich im Schlafwandler-Modus befinden, sozialpolitisch sehen wir auch nichts Neues, sondern nur Altlinke und neue Altlinke. Das hilft alles nix in der Gegenwart, schon gar nicht für die Zukunft. Nur wer gesellschaftliche Naturverhältnisse im Sinn hat, die künftiges Überleben sicherstellen, darf beanspruchen, an der Zeit zu sein. Ist das links? Wahrscheinlich nicht, ist aber egal.

Wir brauchen neue Begriffe. Und neue Haltungen.

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