: Strepto-Tempolimita
■ Die Familie als Feind der deutschen Autoindustrie
Ohne Stärkungsmittel und Hochleistungstraining kann die deutsche Autoindustrie in der feindlichen Welt nicht bestehen. Das behaupten jedenfalls die Ärzte in den Auto-Management-Etagen. Das Fortbewegungsmittel auf vier Rädern hat dem muskelbepackten Prestige- und Spaßauto weichen müssen. Die Kisten brauchten ein feingetuntes Muskeldoping und das ständige richtige Training in der Natur — freie Fahrt für freie Bürger auf Deutschlands Autobahnen. Beeindruckend ist, daß die Ärzte ihrem Patienten durch eine ausgewogene Mischung von Bewegung und Medikation allein im letzten Jahr etwa fünf PS mehr antrainierten. Ein neuwertiger Durchschnittssprinter muß heute schon 94 PS auf den Asphalt bringen.
BMW-Chefarzt Dr. Eberhard von Kuenheim marschiert derweil als Umweltmediziner mit Weitblick voran. Er hat die Bedrohung des Patienten Auto durch die verdreckte Umwelt erkannt. Ein schädlicher Bazillus — Strepto-Tempolimita — breitet sich aus und droht gerade Deutschlands letzte Wildstraßen, die sogenannten Autobahnen, zu verseuchen.
Wenn der Seuche nicht Einhalt geboten werde, drohten dem Patienten eine lebensgefährliche Infektion, so Kuenheim. Sekundiert wurde er vom Oberarzt des VW-Hospitals, Dr. Daniel Goudevert. Der Patient sei schon ganz blaß, sein weltweites Ansehen in Gefahr durch die Verseuchung der letzten Tempo-Refugien. Prophylaktisch verlangte Kuenheim gleichzeitig die Auto-Umwelt auch von anderen Belastungen zu befreien.
Nachdem man die Fußgänger unter die Erde, die Radfahrer auf ihre eigenen Wege und die Straßenbahnen aus der Innenstadt gedrängt habe, gelte es nun die letzten übriggebliebenen Infektionsherde auszuschalten. An erster Stelle stehen dabei die Abgase des Vorderautos im Stau. Die lebenswichtige Spaßfunktion des Autos werde angegriffen, wenn zuviel der jährlich 500 Milliarden Kubikmeter Abgase einem Sechszylinder-Einspritzer direkt durch den Kühlergrill dringen. Insbesondere, da sich dieser Grill dank verfeinerter Anti-Blockier-Systeme für die Bremsen schon in normaler Fahrt dem Vorderauto immer mehr nähere.
Ein Hauptgrund: Frauen und Kinder nähmen in ihrer Fixierung absolut keine Rücksicht auf den fiebrigen Zustand des Patienten Auto. Kuenheim klagt völlig zurecht, daß Familien statt auf Stauvermeidung immer noch auf gemeinsame Wochenenden und Ferienzeiten bestehen. Dabei müßte dieser Anschlag auf die Gesundheit, der dem Patienten Auto ganz besonders zu schaffen mache, eigentlich durch Trockenlegung des Ladenschlußsumpfes, Flexibilisierung der Arbeitszeit und Verteilung der Sommerferien auf das ganze Jahr bekämpft werden. Gleichzeitig, so verrieten die Ärzte, arbeite man in den Labors an einem Allzweckantibiotikum gegen den Stau. „Elektronisches Verkehrsleitsystem“ soll es heißen. Hermann-Josef Tenhagen
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