: Autos stehen nur dämlich herum
Die Münchener „Socialdata GmbH“ legt neue Erkenntnisse über die Personenmobilität in Deutschland vor: Ein Drittel aller PKW-Wege endet nach drei Kilometern/ Autos beanspruchen sehr viel Platz und werden nur 40 Minuten täglich genutzt ■ Von Markus Hesse
Im 17.Jahrhundert führte der französische Philosoph Blaise Pascal noch alles Unglück dieser Erde darauf zurück, daß die Menschen nicht still in ihrem Zimmer bleiben könnten. Heute ist die Verkehrspolitik berauscht von der Mobilität. Zum einen steht der Begriff stellvertretend für Freiheit, Emanzipation und Abenteuer, zum anderen wird in der Mobilität nicht selten die Inkarnation des Bösen schlechthin vermutet. Licht in diesen Nebel bringen seit längerem die Untersuchungen der Münchener Socialdata GmbH.
Anknüpfend an frühere Daten aus den achtziger Jahren liegen nun neue Erkenntnisse über die Personenmobilität in Deutschland vor (1). Erfaßt wurden alle Aktivitäten aller Personengruppen (einschließlich der Kinder unter zehn Jahren), erstmals mit Leipzig und Erfurt auch zwei Städte in den ostdeutschen Bundesländern. Die Ergebnisse bestätigen in auffallender Weise die vielfach diskutierte Grundtendenz der Mobilitätsentwicklung: Während die Aktivitäten der Menschen (also ihre Verkehrszeiten, Hauszeiten, Wegehäufigkeiten) in den letzten Jahren relativ konstant geblieben sind, haben sich die Wegstrecken (Entfernungen) sowie die Verkehrsmittelnutzung beträchtlich verändert.
Meist enden die Wege nach einem Kilometer
Fast drei Viertel des Tages sind die Menschen nicht zu Hause, etwa eine Stunde täglich geht für das Fortbewegen in Verkehrsmitteln drauf (bei Berufstätigen naturgemäß etwas länger). An dieser Zeitverteilung hat sich in den vergangenen Jahren kaum etwas geändert. Im Durchschnitt sind es nach wie vor drei Wege pro Tag, dazu gehören Einkaufen und Arbeiten. Bei den mobileren Personen liegt der Wert mit etwa drei bis vier Wegen etwas höher.
Der größte Teil der „Alltagsmobilität“ wird nach wie vor in relativ kleinen Radien abgewickelt: ein Viertel aller Wege endet bereits nach einem Kilometer, die Hälfte nach drei Kilometern. Nur jeder fünfte Weg führt weiter als zehn Kilometer. In ländlichen Regionen mit ihrer dispersen Siedlungsstruktur und schlechten öffentlichen Personen- Nahverkehrs-(ÖPNV)-Angeboten sind die Entfernungen größer. Auffallend ist auch, daß die Geschwindigkeiten des öffentlichen Verkehrs nur unwesentlich unter denen des Pkw liegen (in der Regel weniger als 20 Kilometer pro Stunde) und nur ein Drittel aller Pkw-Fahrten überhaupt weiter führt als diejenigen mit ÖPNV.
Fußwege werden von Autofahrten verdrängt
Fast 40 Prozent aller Wege werden zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt, der öffentliche Verkehr schwankt zwischen einem 25-Prozent-Anteil (München, Leipzig) und marginalen Werten (ländlicher Raum). Der Anteil der Pkw-FahrerInnen liegt „in der Regel (deutlich) unter 50 Prozent“. Spitzenreiter im „Umweltverbund“ unter den Vergleichsräumen sind Freiburg, Hannover, Leipzig und Erfurt, die höchsten Anteile für den Pkw-Verkehr wurden dagegen im Ruhrgebiet, im Saarland und in einigen ländlichen Regionen gefunden. Während die Gesamtanteile des öffentlichen Verkehrs um den 20-Prozent-Wert schwanken, liegt sein Anteil an den in die Innenstädte gerichteten Fahrten bereits doppelt so hoch. Handelt es sich um Einkaufsfahrten, liegt der ÖPNV-Anteil nicht selten um das 2,5-fache über dem Gesamtdurchschnitt.
Die Wahl der Verkehrsmittel hat sich deutlich verschoben, wie am Beispiel des Saarlandes gezeigt wird. Lag der Umweltverbund dort im Jahr 1976 nur knapp unter der 50-Prozent-Marke (46 Prozent), so ist er 1989 auf 27 Prozent geschrumpft. Die erhebliche Zunahme der Pkw- Fahrten um fast die Hälfte gegenüber 1976 ging zu Lasten der Fußwege (von 35 Prozent auf 20 Prozent) und des ÖPNV (von neun Prozent auf fünf Prozent). Im gleichen Zeitabstand blieben die wichtigsten Kenngrößen der Mobilität (Wegezahl und -häufigkeit, Zeitaufwand) weitgehend konstant, signifikant verändert hat sich dagegen ausschließlich die Entfernung pro Weg, die von 7,4 Kilometer auf 8,5 Kilometer zunahm.
Die tägliche Betriebszeit des Pkw nach den Socialdata-Erhebungen beträgt nur 40 Minuten. 97 Prozent der gesamten Zeit stehen die Autos herum. Auch die Reichweite der Pkw-Fahrten deutet auf eine völlig unangemessene Relation von Verkehrsaufwand und Motorisierung hin, denn etwa ein Drittel aller Pkw- Wege endet nach drei Kilometern, die Hälfte nach fünf Kilometern. Jede zehnte Pkw-Fahrt ist sogar bereits nach einem Kilometer beendet, während nur ein Viertel aller Pkw- Fahrten weiter als zehn Kilometer führt. Außerordentlich groß ist der Raumanspruch der Fahrzeuge. Die Pkw sind mit einer durchschnittlichen Besetzungszahl von 1,3 (7,5 Prozent der Mitfahrerplätze) einerseits sehr schlecht ausgelastet, andererseits beanspruchen sie an Nutzungstagen durchschnittlich drei Stellplätze, kommen mithin auf einen Parkflächenbedarf von 40 bis 60 Quadratmetern.
Autos werden nur zu drei Prozent genutzt
Die Nutzungsfrequenz des Pkw ist vor allem bei Männern zwischen 20 bis 59 Jahren sehr ausgeprägt, während die übrigen Altersgruppen und Frauen häufiger den „Umweltverbund“ nutzen. Im Zeitverlauf, dies zeigen die Beobachtungen aus Saarbrücken, nehmen die Verkehrsanteile des Pkw jedoch bei allen Bevölkerungsgruppen deutlich zu.
Verkehrsstrukturen deutlich verschoben
Das Verkehrs- und Mobilitätsverhalten der Menschen ändert sich langsam, aber gewaltig. Heute dominiert in vielen Fällen noch die Stadt der kurzen Wege, das Idealbild einer verkehrsarmen Raumentwicklung. Die Bedeutung des Pkw als Verkehrsmittel ist noch nicht so überragend, wie es seinen regelmäßigen NutzerInnen erscheint. Allerdings haben sich die Verkehrsstrukturen in den vergangenen zehn bis 15 Jahren bereits deutlich verschoben, und dies wird auch künftig der Fall sein.
In diesem Sinne ist es nur eine Frage der Zeit, wann ostdeutsche Städte wie Leipzig und Erfurt — mit heute noch vorbildlichen Kenngrößen beim Umweltverbund — ihren Anteil des Pkw verdoppeln, den der anderen Verkehrsarten halbieren und somit per saldo auf Ruhrgebietsniveau kommen. Ob diese Entwicklung durch die (Verkehrs-)Politik tatsächlich beeinflußt werden kann, ist noch offen, denn ernsthafte Versuche hierzu hat es noch nicht gegeben. Die verhaltenere Entwicklung der Motorisierung in einigen süddeutschen ÖPNV-Vorzeigestädten könnte — positiv betrachtet — das Signal für eine Trendumkehr geben. Pessimisten wiederum neigen zu der Vermutung, daß der Marsch in den Verkehrskollaps auch durch Restriktionen für den Kfz-Verkehr und Investitionen in den „Umweltverbund“ nicht mehr zu bremsen sein wird. Wohin die Reise geht, wissen wir also noch nicht. Das Zauberwort der „Mobilität“ hat sich allerdings bereits heute als Luftblase entpuppt.
(1) Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV)/ Socialdata GmbH: Mobilität in Deutschland, Köln 1991
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