: Carringtons Waffenstillstand : Wie viele Stunden hält er?
■ Serbien, Kroatien und die Bundesarmee schließen Waffenstillstand als „letzte Chance für Deeskalation“/ Den ganzen Tag über tobten Kämpfe in Kroatien
Zagreb (dpa/afp) — Aus dem montenegrinischen Igalo kam am Dienstag nachmittag eine überraschende Nachricht: Dem von der EG mit der Vermittlung im „Jugoslawienkonflikt“ beauftragten Lord Peter Carrington ist es gelungen, in Verhandlungen mit den Präsidenten Serbiens und Kroatiens, Milosevic und Tudjman, sowie dem jugoslawischen Verteidigungsminister Kadijevic die Zustimmung zu einem sofortigen Waffenstillstand zu erreichen.
In einer am Verhandlungsort verlesenen Erklärung heißt es: „Wir sind uns bewußt, daß dies die letzte Chance für Deeskalation und für das Ende der Kämpfe ist... Dies bedeutet, daß sofort und gleichzeitig alle bewaffneten Formationen, einschließlich der paramilitärischen Kräfte, der irregulären Einheiten, der (kroatischen) Nationalgarde und der jugoslawischen Armee den unmittelbaren Kontakt beenden und sich von allen Orten zurückziehen, an denen zuvor Feindseligkeiten ausgetragen wurden oder werden. Alle paramilitärischen und irregulären Einheiten werden entwaffnet und aufgelöst, die Reserveeinheiten der kroatischen Nationalgarde werden demobilisert, die Volksarmee kehrt in die Kasernen zurück. Dieser Prozeß findet unverzüglich und zeitgleich statt... Dieses Land ist nur noch Tage vom Zustand des unumkehrbaren Bürgerkrieges entfernt. Wenigstens darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheiten.“ Jedoch, so heißt es weiter, gibt es „tiefe und bedrohliche Meinungsverschiedenheiten zwischen uns, wer für die Lage in Jugoslawien verantwortlich ist und wie die Zukunft des Landes aussehen soll...“.
Ob dieser Waffenstillstand, der über weite Strecken die Formel früherer EG-Friedensvereinbarungen wiederholt, jedoch länger als diese halten wird, scheint mehr als fraglich. Noch am Montag abend hatten die Generäle der Bundesarmee in einer an Hohn kaum mehr zu überbietenden Erklärung angekündigt, daß sie mit ihren Kriegsschiffen „aus humanitären Gründen“ sieben kroatischen Hafenstädte blockieren werden. „Mit offensiver Notwehr“ sollten die Soldaten „vor dem Hungertod bewahrt und aus den Kasernen freigepreßt werden“. Aus- und einlaufende Schiffe, so hieß es weiter, würden unter Feuer genommen.
Hintergrund dieser Drohung, die am Dienstag nachmittag durch das Abfangen eines Flüchtlingsbootes bei Zadar bereits Realität wurde: Trotz der massiven Angriffe der Bundesarmee am Wochenende ist es ihr bisher nicht gelungen, alle von der kroatischen Nationalgarde blockierten Kasernen freizukämpfen. Und so beschoß — nach Angaben des Zagreber Fernsehens — ein Kriegsschiff der Bundesarmee eine Kaserne bei der Hafenstadt Split, die Innenstadt des ebenfalls an der Adria gelegenen Sibenik wurde bombadiert, auf Zadar rücken Panzer vor.
An Schärfe zunehmende Kämpfe wurden außerdem aus der 50 Kilometer südöstlich Zagrebs liegenden Stadt Petrinja, den ostslawonischen Städten Osijek, Vukovar und Vinkovci, sowie von Okucani an der Autobahn Zagreb-Belgrad gemeldet.
So wurde auch gestern erneut deutlich: seit einigen Tagen haben die Kämpfe serbischer Freischärler gegen die kroatische Nationalgarde an Bedeutung verloren. Nachdem die Cetniks bisher von der Armee aus der „zweiten Reihe“ unterstützt worden waren, kämpft jetzt die Bundesarmee an „vorderster Front“.
Immer größer scheint die Gefahr eines Angriffs auch auf Zagreb zu werden. Am Dienstag wurde in der kroatischen Hauptstadt bereits zum viertenmal innerhalb von drei Tagen Luftalarm ausgelöst. Radio Zagreb forderte die Bevölkerung in regelmäßigen Abständen auf, Schutzräume und Keller aufzusuchen. Die Stimmung in der Stadt ist extrem gespannt.
Am Montag abend hatten die Flugzeuge der Bundesarmee den Fernsehsender Zagrebs mit Raketen beschossen. Grund: Die Armeeführung in Belgrad hatte sich über die „böswillige Berichterstattung“ der kroatischen Medien beklagt. Armeegeneral Raseta kündigte an, „daß ein Bombenangriff auf Zagreb nicht mehr ausgeschlossen werden könnte.“
Im wahrsten Sinne des Wortes „explosiv“ ist die Lage inzwischen auch in Bosnien-Herzegowina. Nach mehren Anschlägen im Nordwesten und Süden der Teilrepublik war Montag nacht in der Hauptstadt Sarajewo ein Bombenanschlag auf eine islamische Moschee verübt worden. Das Innenministerium rief die Bevölkerung auf, eine Eskalation von Gewalt zu verhindern. Diese könne die „guten ethnische Beziehungen“ gefährden. In der Republik leben 43 Prozent Moslems, 31 Prozent serbische Orthodoxe und 17 Prozent kroatische Katholiken.
Auf den Norden Bosniens greifen inzwischen jedoch auch die Kämpfe in Kroatien über. Aus diesem Grund bewaffnet sich die Bevölkerung, werden Piratensender gegründet.
Das jugoslawische Staatspräsidium wollte am Dienstag nachmittag in Abwesenheit seines Vorsitzenden Stipe Mesic in Belgrad zusammentreten. Thema der Sitzung, die vom serbischen Lager (Serbien, Wojwodina, Kosovo und Montenegro) einberufen wurde, sollte Mesics Appell an die Vereinten Nationen sein. Der kroatische Politiker hatte in einem Schreiben an den Präsidenten des UN-Sicherheitsrates von einem „Militärputsch“ in Jugoslawien gesprochen. Die Armee sei eine „außerinstitutionelle Kraft“ geworden. Er forderte die Einberufung des Sicherheitsrates und die Entsendung von Friedenstruppen an die Grenze zwischen Serbien und Kroatien. her
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