: Ende eines Kindergeburtstags Von Philippe André
Sie haben's wirklich schwer, die Kinder in den Großstädten. Am unangenehmsten ist das Leben für die Kleinen jedoch in der neuen deutschen Hauptstadt; Weltkindertag hin oder her! In der emsigen „neuen Geschäftigkeit“ hier stören sie eh nur. Außerdem wollen sie partout keinen Gefallen an all der betonierten Ödnis und Leere finden und erlauben sich, zunehmend verärgert, auf die rapide ansteigende Zahl der Alkoholiker und sonstigen durch die Straßen wankenden Monster hinzuweisen. Auch ihre astreine Versorgung in dem umfangreichen Netz von Kinderläden und ähnlichen Einrichtungen ist akut gefährdet. Denn eine Flut von Spekulanten- und anderen Schweinen ergießt sich nun in die vereinigte Stadt. Eine Einrichtung nach der anderen wird mit barbarischen Mieterhöhungen und anderen „legalen Maßnahmen“ ins Aus geschickt. Sind die Kids dann wieder bei den anderen auf der Straße, lauern dort die Pkwehs, stets auf der Pirsch nach ungeschickten kleinen Opfern. Doch damit nicht genug:
Mein Sohn wollte letzten Samstag seinen zehnten Geburtstag feiern und die erste echte Disco- Fete seines Lebens durchziehen. „Cool abrocken“, war die Parole. Gegen 18 Uhr trudelten die ersten Gäste ein: über die Maßen wohlriechende Mädchen und überraschend sauber gekleidete Jungs bevölkerten alsbald die Wohnung, schlugen sich die Bäuche mit allerlei Süßkram voll und schwangen sodann endlos gutgelaunt das Tanzbein nach „Hämmer“- und „Lambada“-Rhythmen. Die Jungs baten die Mädels ab und an, sie nicht gar zu stark an sich „zu drücken“, und diese forderten hin und wieder „etwas mehr Action auf der Tanzfläche“ ein. Kurz: Die Fete lief wie geschmiert.
Es begann mit einem abrupten Anschwellen der stets heulenden Martinshörner und entpuppte sich schnell als lockere Instant-Straßenschlacht zwischen „Autonomen“, die, analog zu den Herbstmanövern der Nato, eine Art NOlympic-City- Aufwärmübung durchzogen, und hilflos umherirrenden Blaulichtbullen. Ein zur Tür hereinschneiender Vater erläutert die Situation: „Anni und Laura können auf keinen Fall nach Hause“, meldet er kurzatmig, „Heinrichplatz, Mariannenplatz, Oranien- und Naunynstraße brennen. Alles voll Barrikaden, abgefackelter Autos und umgestürzter Bauwagen.“ Ein gemeinsamer Gang vor die Tür verdeutlicht den Ernst der Situation. Meterhohe Feuersäulen steigen vom Heini auf, huschende Gestalten und die Nacht brutal zerreißende Hörner vemitteln ein Gefühl von Bedrohung. Eines der Mädchen beginnt zu schluchzen. Wir trösten sie. Auch die anderen Kinder wahren die Contenance nur mit erheblichen Schluckbewegungen. Lagebesprechung: „Wir haben eine Chance, wenn wir versuchen, außenrum, hinterm Lauseplatz vorbeizukommen“, meint Thomas. Er ist häuserkampferfahren. Wie selbstverständlich fällt ihm die Führung des Trecks zu. Als ich mich als Eskorte anbiete, werde ich von meinem Sohn scharf zurechtgewiesen. Er hat Angst. Auch um die anderen. Ende eines Kindergeburtstages in Berlin-Mitte.
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