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ERKEHRSPROBLEME

In ihre schönsten Trachten hatten sich die Binzer Bürger geworfen, als zum ersten Male ein Intercity in den Bahnhof des Ostseebades am Südostzipfel der Insel Rügen einfuhr. Ob freilich der bequeme Bahnanschluß an das Ruhrgebiet, an Bremen und Hamburg einen Kollaps des Straßenverkehrs auf Deutschlands größter Insel verhindern kann, ist fraglich. Rund 100.000 Einwohner hat Rügen, im Sommer gesellten sich in der Vergangenheit noch einmal so viele Urlaubsgäste dazu. Im Moment liegen zwar noch große Kapazitäten brach, da ungeklärte Eigentumsverhältnisse und Qualitätsmängel die Zahl der zur Verfügung stehenden Gästebetten auf rund 50.000 reduziert hat. Doch die Rüganer, wie sie sich selbst nennen, sind eifrig dabei, ihre Insel zu einem neuen Urlauberparadies umzugestalten — für Gäste, die zumeist mit dem eigenen Auto kommen werden.

Wo es eigentlich langgehen sollte, wissen die Insulaner. Nostalgiebewußtsein bestimmt das Denken. „Schön wären hübsch geflochtene Strandkörbe statt der Kisten aus Sperrholz“, meint etwa Tourismusdezernentin Gesine Skrzepsky. Kaum noch einen Freund finden auch die eiförmigen Badewachstationen aus Spannbeton, einst bautechnisches Aushängeschild vor dem prächtigen Kurhaus aus der Gründerzeit.

Auch das Umweltbewußtsein ist stark ausgeprägt. Ein Haus, das sich ein westdeutscher Wirtschaftsprüfer in ein Naturreservat gesetzt hat, steht jetzt vor dem erzwungenen Abriß. Und in der letzten Juni-Woche entschieden sich die Binzer in einer Abstimmung mit 93 Prozent gegen einen bereits unterzeichneten Vertrag über das großangelegte Entwicklungsprojekt eines westdeutschen Baukonzerns.

„Heute haben wir die einmalige Chance, alles wiederherzurichten“, sagt Gesine Skrzepsky. Doch während die Rüganer mit Müll, Entwässerungs- und Heizproblemen kämpfen, um die erwarteten Besucherscharen bewältigen zu können, drohen die Chance zu einem verkehrstechnischen Neubeginn zu verpassen.

Schon kleinere Spitzen im Tourismus-Geschäft, etwa zu Pfingsten, sorgten für katastrophale Verhältnisse auf Rügens Straßen und Parkplätzen. Für den autolosen Urlauber, der aus dem Intercity steigt, beginnen die Probleme bereits auf dem Bahnhofsvorplatz. Dort finden nur Taxen Stellplätze; der Bus hält einen Kilometer entfernt, und viel Glück gehört dazu, dort eine der wenigen Verbindungen zu erwischen.

Neue Wege im Verkehrswesen werden bisher nur angedacht. Man könnte die alten Feldwege ja zu einem perfekten Fahrradwegenetz ausbauen, heißt es beim Fremdenverkehrsverband. Die Städte müßten doch autofrei bleiben, und zu besonderen touristischen Magneten, wie den Kreidefelsen der Stubbenkammer oder Kap Arkona am Nordzipfel von Rügen, könnten eigentlich Pendelbusse eingesetzt werden. Sogar an eine Gebühr für Auto fahrende Besucher wurde mal gedacht. Doch konkret gibt es kaum Ansätze, um die natürlichen Reize Rügens vor der Autoflut zu bewahren.

Drastische Methoden, um mit dem Problem fertig zu werden, erweisen sich indes mittlerweile auf vielen Touristeninseln als notwendig. Selbst dort, wo kostspielige Barrieren wie Fährverbindungen oder Bahndämme dem ausufernden Verkehr einen Riegel vorschieben, wie etwa auf den nordfriesischen Inseln, leidet die Urlaubsqualität unter der Blechlawine. Immer mehr kleinere Inseln verzichten vollständig auf Autos. Diese besonders konsequente Problembewältigung findet sich auch westlich von Rügen auf der kleinen Nachbarinsel Hiddensee. Außer dem Motorrad für den Arzt und einem Bus für die Schulkinder gibt es dort nur eine Handvoll Fahrzeuge zur Versorgung. Mancher Hiddenseer ahnt, daß der Verzicht auf des Deutschen liebstes Spielzeug das größte Kapital der idyllischen Insel werden könnte.

Claas Thomsen / dpa

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