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In den Sand gesetzt

„Die Afrikanerin“, Meyerbeers Oper in Bielefeld  ■ Von Frieder Reininghaus

Vor zwei Wochen wäre Giacomo Meyerbeers zweihundertster Geburtstag zu feiern gewesen. Welch ein Unterschied zur Behandlung, die Mozart angesichts des immer noch bevorstehenden 200. Todestages widerfährt! Sogar das Musiktheater Oberhausen, das sich im Stadium der Abwicklung befindet, fühlt sich bemüßigt, Die Hochzeit des Figaro in einer Ausstattung von Bernhard Kilchmann durch Florian-Malte Leibrecht inszenieren zu lassen. Während also noch die letzte Provinzbühne in der Schließphase Mozart-Oper heraufzwingt oder herunterholzt, herrscht im Fall M. weitgehend Funkstille.

Der Herr Bundespräsident, nun gut, sprach Anfang September im Schloß Bellevue einige freundliche Worte zu Meyerbeers Leben und Werk; Marcel Prawy, Spezialist fürs seichtere Entertainment mit Oper/ette, durfte die Laudatio intonieren. Auch richtete man dem in der Nähe von Berlin auf einer Poststation zur Welt gekommenen M. als Geburtstagsständchen ein Brandenburger-Tor-Konzert aus, als wäre er ein Brandenburger Tor gewesen (sein Verhältnis zur Heimatstadt Berlin, von wo er den offiziellen Hauptwohnsitz sein Leben lang nicht wegverlegte, blieb vom antifranzösischen „Befreiungskrieg“ an gespannt, auch als sich Meyerbeer — in Italien und Frankreich bereits seit Anfang der zwanziger Jahre sensationell erfolgreich — 1842 von einem zunächst als liberal geltenden preußischen König für einige Jahre als Generalmusikdirektor in Berlin einspannen ließ). Dort, wo es in allererster Linie fällig wäre, ist Meyerbeers Werk fast gänzlich abwesend. Die Deutsche Oper Berlin behalf sich mit der Wiederaufnahme der von John Dew und Gottfried Pilz aufbereiteten Hugenotten, die Staatsoper verspricht Die Afrikanerin für Ende November.

So ist das Stadttheater Bielefeld wieder einmal einsam auf weiter Theater-Flur und hat die Gunst der Stunde genutzt. John Dew inszenierte L'Africaine, das Stück, über dessen langwierigen Proben für die Uraufführung Meyerbeer starb und das deshalb keine endgültige Form erhielt. Denn der perfektionistische Meister des großen Opern-Fachs nahm bei all seinen Produktionen Änderungen, Striche und Ergänzungen (und zum Teil gravierende) bis fast zur letzten Minute vor. So ist die Aufführungsgeschichte im Fall der Afrikanerin von Anfang an durch Probleme gekennzeichnet, derer das Theater Bielefeld durch eine neue Fassung (erarbeitet unter der Federführung des Chefdramaturgen Alexander Gruber) Herr werden wollte.

Die Idee, einen Ausschnitt aus der Eroberungsgeschichte vom Beginn der Neuzeit zum Stoff einer großen Oper zu machen, kam dem Librettisten Eugène Scribe 1837 in den Sinn — kurz nachdem er mit Meyerbeer durch den sensationellen Erfolg der Hugenotten international bekannt geworden war. Der Einfall verdankte sich wohl nicht nur dem Zufall: Er stellte sich ein, als die Großmächte jener Zeit angesichts der politisch stabilen Verhältnisse in Europa die Frage der Ausweitung ihres jeweiligen Macht- und Einflußbereichs erneut in der südlichen Hemisphäre zu entscheiden sich anschickten. So war der Zeitbezug der (in dieser Form frei erfundenen) Geschichte von der Suche des Seewegs nach Indien mitkomponiert: eine Story über die historische Figur Vasco da Gama, der 1497 das Kap der Guten Hoffnung umsegelte und Calicut an der Westküste Indiens erreichte, Anfang des 16. Jahrhunderts bei einer zweiten Expedition verschiedene portugiesische Niederlassungen gründete und 1524, als Vizekönig, ein drittes Mal tief in den Mittleren Osten vordrang. Wieder — wie bei Les Huguenots — sollte eine ins Historiendrama eingelagerte Liebesgeschichte in politisch aktuell gewürztem Ambiente mit vielfältiger und farbenreichster Musik, opulenten und exotischen Bildern sich zum überwältigenden Gesamtkunstwerk fügen. Anspruch und Erwartung gegenüber dem Vorhaben waren äußerst hoch.

Es dauerte 28 Jahre, bis Die Afrikanerin das Licht der Welt erblickte. Andere Interessen und Verpflichtungen der beiden Autoren behinderten den raschen Fortgang der Arbeit — Meyerbeer stellte das Projekt zugunsten von Ein Feldlager in Schlesien (uraufgeführt 1844 in Berlin), von Le Prophète (der Wiedertäufer-Oper mit den Seitenhieben gegen alle falsche Propheten, Paris 1849), einer Umarbeitung des nicht recht geglückten Feldlagers zu L'étoile du nord (1854) und Dinorah (1859) zurück. Die Ausarbeitung der Afrikanerin zog sich also bis in die sechziger Jahre hin — britische Truppen hatten eben große Aufstände in Indien niedergeworfen und die Herrschaft eines Vizekönigs etabliert, in Mexiko wurde der österreichische Erzherzog Maximilian als Kaiser inthronisiert. Der Kolonialismus trat ins Stadium des Imperialismus — diese Oper thematisierte seine Frühgeschichte.

Die Handlung durchmißt mehrere Expeditionen beziehungsweise Eroberungsfahrten — läßt zunächst Vasco von der gescheiterten Reise Diaz' zum Kap der Guten Hoffnung zurückkehren und diesen mit dem Großinquisitor in Streit geraten (was ihm Kerkerhaft einbringt); der dritte Akt zeigt das der Katastrophe entgegensegelnde Flaggschiff des Geschwaders von Don Pedro, der Vascos Plan der Umschiffung Afrikas realisieren möchte — und den nacheilenden Vasco da Gama. Auch der strandet, doch erst an der Küste Indiens. Gerade dort residiert jetzt Selica, die er einst in Afrika auf dem Sklavenmarkt kaufte, die mit ihm in Lissabon in Haft war und die er Ines schenkte — der Angebeteten, die in eine Vernunftehe mit Don Pedro einwilligte und Vascos Haftentlassung durchsetzte; Don Pedro aber nahm Selica und deren Reisebegleiter Nelusco als Lotsen für seine Expedition mit. Indem der schiffbrüchige Vasco das ihm unbekannte Gestade, diesen „Garten reich und schön“, für Portugal in Besitz nehmen möchte, gerät er in die Gefangenschaft indischer Krieger, die ihn opfern wollen. Aus der Todesgefahr rettet ihn Selica, die er freilich der Ines wegen dann doch wieder im Stich läßt. Das veranlaßt die Zurückgesetzte, den Tod unter den giftigen Blüten des Manzanilobaumes zu suchen.

Die Bielefelder Fassung variierte Manfred Haedlers Übersetzung und begradigte die Reisewege, von denen in der Afrikanerin so ausgiebig gesungen wird. So verschlägt es beispielsweise Ines nicht zur entscheidenden Konfrontation der beiden Frauen, zwischen denen Vasco steht, nach Indien; nur ihre Stimme taucht in Vascos Erinnerung auf. Dieser Eingriff, der mit massiven Kürzungen und Umstellungen in den Akten 3 bis 5 einherging, strafft die Handlung. Die Bielefelder Version macht den Eroberer noch etwas deutlicher zum skrupellosen Machtmenschen, als dies in Eugène Scribes Libretto der Fall ist. Man sollte dem Theater heute auch derart gravierende Veränderungen eines historischen Werkes konzedieren, gerade wenn dies nie endgültig kodifiziert wurde.

Freilich: der Ertrag der Bearbeitung blieb hinter den — womöglich zu Unrecht gehegten — Erwartungen zurück. Erwartet werden durfte in Bielefeld (nach der Auseinandersetzung mit dem „Bild der Frau“ in der neueren Operngeschichte, nach den fulminanten Erleuchtungen der Zwanziger-Jahre-Opern und der durchaus brisanten Aufbereitung von Le Prophète durch John Dew und Gottfried Pilz) das geschärfte Herausprozessieren dessen, was Scribe und Meyerbeer da als tödlich endende Beziehung von Repräsentanten Europas und der dritten Welt problematisiert hatten. John Dew formulierte für die Produktion der Afrikanerin: „Selica, die als Priesterkönigin die Seele ihres Landes verkörpert, verkörpert durch ihr Opfer auch dessen Vernichtung. Darin trifft Meyerbeer das Wesen des Kolonialismus, das darin liegt, daß die Kultur, die erobert wird, zur eigenen Rechtfertigung vernichtet oder erniedrigt und zur Barbarei erklärt werden muß.“

Die Umsetzung solcher Erkenntnis hätte man gern auf der Bühne gesehen. Doch die Bielefelder Premiere offenbarte einen wenig nachdenklichen, eher deutlich kunstgewerblichen Umgang mit Meyerbeers letzter Oper. Für die dramaturgischen Schwächen des Stücks sind weder Dew noch sein Team zur Verantwortung zu ziehen — wohl aber dafür, daß die kritische Intention nicht inszeniert, nicht visualisiert wurde. Ganz am Schluß, wenn die Musik Selicas letzte Atemzüge nachzeichnet, führt eine Schiffssilhouette vor die Szene — eine Wand, die mit einer modernen Stadt aus der Vogelperspektive bemalt ist, einer Stadt mit Autobahnkreuz und Kraftwerk. Das ist zu spät und hoffnungslos zuwenig. Eben nur billig aufgesetzt.

Zuvor hatte eine Erdkugel, deren Längen- und Breitengrade sich zum Gitter fügen, als Gefängnis für den aufsässigen, freilich strategisch richtig denkenden Vasco gedient. Das Indien-Bild mit den fünf Stauden, fleischigen Blättern und knallbunten Blüten, scheint Henri Rousseau (sehr frei) nachempfunden. Das ist beim Stichwort „Exotismus“ auch sehr naheliegend. Aber so ungebrochen hübsch, wie sich die allemal dekorativ vollgestopfte Bühne präsentiert, bleibt alles ohne kritischen Stachel.

Die Ausführung der anspruchsvollen, weithin raffiniert instrumentierten Partitur durch das Philharmonische Orchester und den Dirigenten Rainer Koch gelang keineswegs durchgängig perfekt. Vieles blieb auch in musikalischer Hinsicht unbefriedigend. Das Sängerensemble schlug sich achtbar durch die schweren Partien — Michael Vier überraschte positiv als Nelusco, und Susan Maclean stattete die Titelpartie mit der wünschenswerten Brillanz aus. Sie intonierte schlafwandlerisch sicher, und einige Passagen gerieten ihr fast atemberaubend. So erweist sich diese Afrikanerin als hörenswert, solange nicht anderswo eine musikalisch noch günstigere Konstellation zusammentritt, aber kaum als sehenswert. John Dew hat neuerlich eine Produktion in den Sand gesetzt.

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