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Dynamische Angsthasen

■ Dresden verlor in Leverkusen verdient hoch mit 0:4

Leverkusen (taz) — Mit erstaunlichen soziologischen und ökonomischen Kenntnissen wartete Bayer- Fußballchef Günther Kaebel bereits vor dem Spiel gegen Dynamo Dresden auf. Er sei vor kurzem „da unten“ gewesen. Damit meinte er den afrikanischen Staat Ghana, der vor kurzem Fußball-Juniorenweltmeister wurde. Dort hat Bayer die Talente Sebastian Barnes (15) und Muhammed Gargo ( 17) verpflichtet. Manager Calmung sagte dazu: „Das sind keine Schokolandenbabies.“ Und Kaebel begründete auch die Tatsache, daß diese Spieler schon gereifte Persönlichkeiten sind: Sie hätten nämlich in Ghana eine harte Kindheit hinter sich.

Die Spieler, meinte Callmund, wären ungefähr so teuer wie Spieler der deutschen Amateuroberliga. An einem möglichen Transfer würden der Fußballverein und -verband in Ghana mit 50 Prozent beteiligt. Sozialarbeit bei der Bayer-AG? Wenn die „Jungs“ einst im Marktwert steigen — vielleicht sogar in Millionenhöhe — ist es für Leverkusen sogar ein Geschäft. So macht man das. Bayer-Ahnherr Carl Duisberg läßt grüßen.

Donnerstag, der 19. September 1991, Spätsommer in Leverkusen. Idyllisch brummt der Verkehr über die völlig überlastete A1. Noch liegt Tau auf dem Trainingsplatz neben der Stelzenautobahn. Energisch, aber ruhig erteilt Trainer Reinhard Saftig seine Anweisungen an die Spieler des TSV. Die beobachtenden Rentner sind einer Meinung, was selten genug vorkommt: Leverkusens neuer Trainer könne die Fußballer begeistern, die Mannschaft spielt gut, nur eins fehle — nämlich die Tore.

Der Gelsdorf-Nachfolger, der den Trainingskiebitzen am Donnerstag ein Einstandsbierchen spendierte, gab in der Woche die Parole aus, daß gegen Dynamo Dresden nach fünf Unentschieden und insgesamt nur sieben Toren wieder ein Heimsieg her müsse. Saftig: „Gegen Dresden wird es aber nicht so einfach.“ Er gehe davon aus, daß Dynamo eher abwartend spielen wird, um dann über Allievi und Gütschow gefährlich zu kontern. 11.000 Zuschauer erlebten dann am Samstag bis zur 18.Minute im Haberland-Stadion eine Dresdner Elf, die genau diesen Erwartungen entsprach.

Im Leverkusener Stadion hat man übrigens auf die Betonausbuchtungen für die Flutlichtmasten vier riesige Bayer-Kreuze gepinselt. Diese „dezenten Embleme“ sollen wohl selbst dem Blödesten klarmachen, daß der Verein TSV irgendetwas mit der Bayer-AG zu tun hat. In jener 18.Minute also stellte Schiedsrichter Merk Bayer- Stürmer Heiko Herrlich vom Platz. Nach einer Hakelei zwischen Wagenhaus und Herrlich stieß dieser den Dresdner Libero beim Aufstehen um, wobei Wagenhaus wohl schauspielerisch mithalf. Dazu stellte Dynamo-Trainer Schulte nach dem Spiel fest: „Der Feldverweis für Herrlich war für uns eine Katastrophe. Wir haben die Überlegenheit nicht genutzt.“

So war es, denn Leverkusen spielte mit „großer Leidenschaft bei zehn gegen elf“, meinte dazu Schultes Kontrahent Reinhard Saftig. Das 1:0 für Leverkusen erzielte Fischer per Nacken in der 37.Minute, sieben Minuten später flog auch ein Dresdner vom Platz. Büttner konnte nach einem Foul an Foda in Richtung Dusche spazieren. In der zweiten Halbzeit spielten nun zehn Leverkusener mit zehn Dresdnern Katz und Maus.

Ion Lupescu traf in der 54.Minute zum 2:0, wenige Minuten später erzielte Martin Kree ein „tödliches Freistoßtor“ aus 20 Metern. Den Schlußpunkt setzte dann der eingewechselte Marko Schröder nach einer „Zucker“-Flanke von Mannschaftskapitän Jorginho. Fazit nach dem Spiel: Jubel beim „Bayer“ nach dem ersten hohen Heimsieg an der Autobahn. Dynamo Dresdens Coach Schulte brachte eine realistische Einschätzung: „In der zweiten Halbzeit haben wir Angsthasenfußball geboten. Das darf man auswärts nicht machen.“ Johannes Boddenberg

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