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Ich mache nichts zweimal

Stephen Sondheim — das Porträt eines ungewöhnlichen Musical-Komponisten  ■ Von Gerhard Midding

Er stellte die Institution Ehe auf den Prüfstand eines bissigen Musicals, als diese noch unangreifbar und selbstverständlich schien (Company). Er ließ gealterte Showstars ihre Lebenslügen eingestehen und fand so eine musikalische Metapher für das Aufwachen aus dem amerikanischen Traum (Follies). Er komponierte einen bitteren Walzertraum um einen Reigen liebesverwirrter Paare im Schweden der Jahrhundertwende (A Little Night Music). Er zeichnete den westlichen Einfluß und die Kommerzialisierung Japans nach und versetzte dem Broadway-Publikum einen klangvollen Kulturschock (Pacific Overtures). Er brachte das Tabuthema des Kannibalismus auf die Bühne (Sweeney Todd, The Demon Barber of Fleet Street). Er verlieh den Figuren in Seurats Gemälde Ein Sonntagnachmittag auf der Insel Grand Jatte eine eigene Stimme und ein imaginäres Leben (Sunday in the Park with George). Er verknüpfte unterschiedlichste Märchenmotive miteinander und dachte dabei die Interpretationen Jungs und Bettelheims gleich mit (Into the Woods).

Vom Anfang seiner Karriere an — die mit den Songtexten zur West Side Story begann — brach Stephen Sondheim mit der traditionellen Unbeschwertheit des Broadway-Musicals. Dem genreeigenen Optimismus, der die Musikkomödie zur amerikanischsten aller Bühnengattungen macht, hat er sich seither erfolgreich entzogen. Seine Themen lauteten: Einsamkeit, der Verlust von Illusionen und das Einklagen unerfüllter Versprechungen aus der Vergangenheit.

In dem Produzenten und Regisseur Harold Prince fand Sondheim einen idealen Partner, der sich ebenfalls unkonventionelle Themen im Rahmen des populären Musiktheaters vorstellen konnte. Ihre gemeinsamen Arbeiten sind als „concept musicals“ berühmt. In ihnen erforschen sie Formen, Traditionen, Stilkonventionen und nicht zuletzt die Glaubwürdigkeit des eigenen Mediums: zweiflerische Versuche der Selbstvergewisserung und Visionen, den Gedankengängen nicht unähnlich, mit denen Seurat in Sunday die Grundbedingungen seines eigenen Schaffens reflektiert: „Die Herausforderung, Ordnung in das Ganze zu bringen, durch Formgebung, Spannung, Komposition, Gleichgewicht und Harmonie.“

Bis Company (1970) herauskam, hatten alle Musicals einen Plot; Sondheim und Prince versuchten herauszufinden, ob es auch ohne ginge. Es ging. Fortan verzichteten sie auf eine lineare Erzählung in den Libretti, verdichteten ihre Themen vielmehr in Mosaiken aus Plot-Elementen, Vignetten und Songs. Einem unfehlbaren Erfolgsrezept mochten sie sich dabei nicht anvertrauen; I never do anything twice lautet der programmatische Titel eines Sondheim-Songs.

Von der Kritik erhielt Sondheim damals nur wenig Unterstützung, viele seiner in den USA abgelehnten Stücke mußten erst im Londoner Westend reüssieren, um auch in seiner Heimat anerkannt zu werden. Dort trugen die Plattenaufnahmen der Broadway-Besetzungen seiner Musicals dazu bei, daß man ihn als Komponisten allmählich akzeptierte. Die Alben sind, beinahe ausnahmslos, exzellente Konservierungen der Bühnenfassungen. Sondheim hatte gar das Glück, daß selbst seinem größten Mißerfolg — der Satire Anyone Can Whistle, die nach nur neun Aufführungen vom Spielplan verschwand — auf diese Weise ein langes Leben beschert wurde. Die Präzision dieser Übertragungen überwacht er selbst mit äußerster Strenge: in D.A.Pennebakers Dokumentarfilm über die Aufnahmen zu Company gibt es einen frappierenden Moment, in dem Sondheim heraushört, daß eine Chorsängerin weit im Hintergrund eine Note zu tief singt.

Sondheim ist keineswegs der fleißigste Komponist des Broadways. Harold Prince klagte einmal, daß er alle nur erdenklichen Gründe fände, eine Show nicht zu machen; er selbst konzediert, ein extrem langsamer und neurotischer Arbeiter zu sein, dem es unmöglich ist, seine eigenen Ansprüche zufriedenzustellen. Dennoch ist Sondheim am Broadway nahezu konkurrenzlos. Der wird eigentlich von den Namen der Regisseure und Choreographen dominiert, aber in eine Sondheim-Show geht man, wie man einst in eine Kern-, Gershwin- oder Porter-Show ging. Er hat das Musical nicht nur wiederbelebt, er hat es auch nobilitiert: Sweeney Todd und Pacific Overtures haben inzwischen ihren Weg auf die Opernbühnen gefunden. Sechsmal hat er den Preis der New Yorker Theaterkritiker bekommen, fünfmal wurde er mit dem „Tony“ ausgezeichnet. Für Sunday in the Park erhielt er 1985 sogar den Pulitzer-Preis. Der „Oscar“, den er unlängst für den besten Originalsong (Sooner or later aus Dick Tracy) erhielt, fällt da kaum noch ins Gewicht.

Seine Musical-Produktionen sind die einzigen in der Geschichte des Broadways, in die Geldgeber bereitwillig investieren, obwohl sie wissen, daß diese selten nur Gewinne erwirtschaften. Immerhin: Into the Woods spielte bereits im Vorverkauf 2,5 Millionen ein. Dabei erfüllten Sondheims Bildung und Intellekt das Broadway-Publikum seit jeher mit Argwohn und Skepsis. Das Raffinement, der kultivierte Wortwitz seiner Partituren erschienen ihm kalt und leidenschaftlos. Sein lakonischer Zynismus ließ in ihm einen Chirurgen vermuten, der die Gefühle seiner Figuren seziert. In Company listet er auf, was Eheleute verbindet: „The concerts you enjoy together / neighbours you annoy together / children you destroy together.“ Tatsächlich ist ihm die Distanz eines Insektenforschers (oder vielleicht gar die Eiseskälte eines allzu klugen Kindes?) beim Blick auf seine Figuren keineswegs fremd. Es fällt auch nicht schwer, im Protagonisten von Company Sondheim selbst zu vermuten: einen bindungslosen Junggesellen, der das Scheitern der Beziehungen um sich herum registriert — keinesfalls ohne vorsichtige leidenschaftliche Anteilnahme.

Seit Lorenz Hart ist es keinem Musical-Dichter mehr derart geschmeidig gelungen, emotionale Paradoxa in Textzeilen zu fassen. Sorry-grateful bringt diese Ambivalenz als Songtitel am eindeutigsten auf den Punkt. Sondheim liebt neurotische Figuren, die widersprüchlichste Empfindungen zur gleichen Zeit verspüren können. Der eigenen Identität sind sie nie ganz gewiß: ein Motiv, das sich durch sein gesamtes Werk zieht und mal tragischen Charakter (in Gypsy versucht die Mutter der Striptease-Tänzerin Gypsy Rosie Lee, ihr Leben durch das ihres Kindes zu leben), mal satirischen Charakter gewinnt (in Anyone Can Whistle spricht ein vermeintlicher Psychiater alle Patienten mit seinem eigenen Namen an: das bewirkt eine augenblickliche Identifikation und erspart fünf Jahre Analyse).

Vom Glück, nein: von der Idee des Glücks ist der Textdichter Sondheim fasziniert, ohne es greifen zu können ('Time-Magazine‘ gestand er, nie ernsthaft verliebt gewesen zu sein). Aus seiner Feder stammen einige der schönsten erwartungsvollen oder melancholisch zurückblickenden Liebeslieder: das Glück, der Moment der Erfüllung finden in seinen Songs nicht statt. In With so little to be sure of (in Anyone Can Whistle) und den Duetten zwischen Ben und Sally (in Follies) läßt er die Liebesbeschwörungen der Männer kaum merklich vom Präsens in die Vergangenheitsform hinüberfließen.

Immer wieder bricht die Tragik in das Parlando seiner Musik ein. Alain Resnais, dem er für Stavisky eine der herausragenden Filmpartituren der siebziger Jahre schrieb, nennt dies den „Aspekt des wurmstichigen Apfels“. Die Partitur belegt einzigartig und illustriert, was auch für seine Bühnenwerke gilt. Resnais hatte übrigens schon beim Schreiben des shooting scripts Sondheims Musik zu A Little Night Music in den Ohren (ich nehme an, vor allem die Ouvertüre) und ließ Sondheims Rhythmus auch den der Gesten und des Ganges seiner Schauspieler diktieren.

Sondheims Musik eignet eine ungeheure Dringlichkeit. Oft eilt sie erwartungsvoll und dabei synkopisch- beschwingt voran, als würde sie unbändige Neugier und Lebenseifer antreiben, dann verschiebt sich der Rhythmus abrupt. Das Singtempo, das er von seinen Interpreten verlangt, ist mitunter atemberaubend. Seine Songs können von eingängiger Melodik sein, auch wenn die Klangfarben und Harmonien inzwischen spröder geworden sind. In Sunday in the Park und Into the Woods hat es mittlerweile jedes Aufblühen einer Melodie schwer, sich gegen die insistierenden Rhythmen durchzusetzen.

Wie Gershwin und Porter hat Sondheim sein Handwerkszeug im Studium „seriöser“ Musik erworben: bei dem Avantgardekomponisten Milton Babbitt. (Einen anderen, fast konträren Einfluß übte der Textdichter Oscar Hammerstein aus, der fast zu einem Ersatzvater des jungen Sondheim wurde.) Seine Kompositionen sind komplex und abenteuerlich. Madonna kostete es einen Monat, die Noten der Songs zu lernen, die er für Dick Tracy schrieb. Die häufigste Klage gegen Sondheim lautet, daß er keine zündenden Melodien schreibt, die man auf dem Nachhauseweg summen kann. Tatsächlich gehört er nicht zu den Broadway- Komponisten, die alles darauf anlegen, Hitsongs zu schreiben. Der Erfolg von Send in the clowns in den siebziger Jahren hat wahrscheinlich Sondheim selbst am meisten überrascht.

Seine Songs sind auf bestimmte Charaktere und Situationen zugeschliffen. Er begreift sie als Dramolette: kleine, in sich geschlossene Einakter. Längst hat er die traditionelle Grenzziehung zwischen Libretto- und Songtext aufgehoben, rettet oft die Dialogform in seine Lieder mit hinüber. Er ist ein „dramatic songwriter“, der sich bemüht, den Interpreten einen Subtext zu liefern. Die Songtexte (aber auch die Dialoge, die er zusammen mit Anthony Perkins für den Film Sheila schrieb) verraten Sondheims Faible für linguistische Puzzles, Wortspielereinen, Anagramme und Rätsel (anderthalb Jahre lang heckte er das berüchtigte Kreuzworträtsel des 'New York Magazine‘ aus). Seine Reime sind oft überraschend, beim zweiten Nachdenken aber immer unvermeidlich und logisch. Binnenreime benutzt er, um den einzelnen Zeilen mehr Dichte und Dynamik zu verleihen. Aber er geht nie so weit, die Charakterstimmigkeit einem Reim zu opfern. Es ist auch aufregend, mit anzuhören, wie er nicht reimt.

Da die Songs mit der gesamten Struktur der Partituren eng verwoben sind und sich nur schwer aus ihrem Kontext lösen lassen, bieten sie selten Gelegenheit für Solos oder Starauftritte. Sondheims letzte Arbeiten nähern sich zusehends der Oper an: sie sind fast komplett durchkomponiert, die einzelnen Lieder sind immer unlösbarer in den musikalischen Fluß eingebettet. Musikalische Motive verknüpft er komplizierter als zuvor: durch ironische Symmetrien, Varianten und das Wiederaufgreifen in neuem Tonfall oder Kontext.

Jedes Sujet hat seine eigene Form — die auch in sich eklektizistisch sein kann. Pacific Overtures verbindet japanische Melodik mit amerikanischen Harmonien. In Sweeney Todd klingen wie in einer Horrorfilm-Partitur düster-romantische, furchterregende Akkorde an. Follies löst den Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart in einer Partitur ein, in der sich moderner Stil mit Parodien alter Komponisten abwechselt. Das Kammermusical A Little Night Music baut sich auf Dreivierteltakt- Kompositionen auf. Die Texte sind zumeist innere Monologe, die Sondheim parallel singen läßt, ineinander verschränkt und listig miteinander reimt: Ein Ehepaar erhält eine Wochenendeinladung von der ehemaligen Geliebten des Mannes. Er gibt sich harmlos, sie ist mißtrauisch geworden. Er: „A weekend in the country would be charming / and the air would be fresh...“ Sie: „A weekend in the country with that woman...“ Er: „...in the country.“ Sie: „...in the flesh.“ In einem Sondheim-Song greift alles wie in einem Kreuzworträtsel ineinander.

Auch mit nunmehr 61 Jahren ist er noch immer nicht berechenbar geworden. Sein neuestes Abenteuer, Assassins, das vom Zusammentreffen amerikanischer Präsidentenattentäter, von John Wilkes Booth bis John Kinkley, handelt und diese mit bemerkenswerter Nachsicht betrachtet, schockierte das Off-Broadway-Publikum und bescherte dem Komponisten seinen größten Mißerfolg seit zehn Jahren. Kein schlechter Zeitpunkt, ihn nun endlich hierzulande zu entdecken.

Daß populäres Musiktheater mehr als leidlich vitales Nostalgie- oder Popspektakel sein kann, daß es Formenreichtum und großen Hintergrund haben kann, beweist Sondheim seit mehr als drei Jahrzehnten. Und wir können uns der Wahrscheinlichkeit anvertrauen, daß er es auch in Zukunft tun wird: dem Publikum immer ein paar Schritte voraus, immer ein bißchen zu anspruchsvoll und bissig. Auch wenn jede neue Produktion für ihn mit ungeheurer Agonie verbunden ist: „Creating art is hard work. Every time, it's like squeezing toothpaste out of an empty tube.“

Am 27. September hebt sich im Berliner „Theater des Westens“ der Vorhang für „Follies“, das hier Altstars wie Eartha Kitt, die Kessler-Zwillinge, Brigitte Mira und Margot Hielscher versammelt.

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