Ein Mißverständnis

Zur Uraufführung von Susan Sontags „Alice im Bett“  ■ Von Elke Schmitter

Alice liegt im Bett. Sie ist krank, und niemand weiß warum. Erst das nächste Jahrhundert wird eine Antwort darauf geben — und nicht einmal die ist vollständig und zuverlässig. Einstweilen heißt, womit sie sich herumschlägt, „Neurasthenie“ oder auch „Hysterie“, ein hilfloser Sammelbegriff für einen ebensolchen Zustand, in dem die Patientin von Krämpfen geschüttelt und Lähmungen gequält, von nervösen Zuständen verfolgt und Nervenschmerzen geplagt ist. Verglichen mit ihr ist Christian Buddenbrook, der die übergroße Nase kraus zieht und darüber klagt, daß „an der linken Seite alle Nerven zu kurz sind“, gut dran. Aber auch zu ihm heißt es, kritisch, ironisch, gedehnt und ungeduldig: „Krischan ...“, und dann erwartet die Familie, daß er sein Leben wieder aufnimmt. Die Buddenbrooks haben freilich Pech: Die Hypochondrie erweist sich als stärker, und der, dem nach Aussagen der Mediziner „nichts fehlt“, endet doch in einer Nervenklinik.

Die Krankheit bewohnt den Menschen: das ist das gewohnte Bild. Rücksichtslos und energisch macht sie sich breit; sie läßt sich nieder, um zu bleiben, und der Kranke muß sie hinauswerfen. Wenn die Krankheit zäher ist als ihr Wirt, dann verkehrt sich das Bild, und am Ende bewohnt der Mensch die Krankheit. Das klappt naturgemäß am besten, wenn sie umfassend ist und reich an Symptomen, zäh und launisch, wechselhaft in ihren Erscheinungsbildern, dem menschlichen Gast Atempausen gewährend... Die Medizin nannte das „tückisch“ und wiegte bedenklich den Kopf. Ist die Krankheit Subjekt geworden, ist die Heilung unmöglich, denn es gibt niemanden mehr, mit dem der Arzt ein Bündnis schließen könnte.

Alice James bewohnte ihre Krankheit wie Christian Buddenbrook die seine, wenngleich sie tapfer und verschwiegen ist, wo er jammert und spricht. „Es war mir leider nie möglich“, schreibt sie im Jahre 1890, „mein Bewußtsein auch nur einmal zu verlassen, um nur fünf Minuten Frieden zu gewinnen.“ Das Bewußtsein verlassen, das hieße auch: für eine kurze Zeit Erholung erlangen von dem andauernden Kampf zwischen körperlicher Schwäche und moralischer Stärke, als den sie ihre Krankheit definiert. Sie befindet sich damit im Einklang mit ihrer Umgebung, die dem Körper nur ungern eine Hoheit konzediert, die sie dem Geiste vorgesehen, und die dunkel ahnt, daß Alices „tragische Gesundheit“, wie Bruder James laut überlegt, vielleicht ein Reflex auf das Leben ist, das sie nicht leben kann: das einer geistreichen, aktiven, aggressiven Frau, hochbegabt und selbständig.

Für einen Analytiker von heute wäre sie, mitsamt ihrer Familie, die Idealpatientin: ein Mädchen, dem die Förderung der älteren und jüngeren Brüder zuteil wird (eine unsystematische, aber anspruchsvolle Bildungsreise durch das Europa des 19. Jahrhundert) und dem der Körper verbietet, den Konflikt, der darin angelegt ist, zum Ausbruch zu bringen. Eine Intellektuelle, die nur noch vom Bett aus mit den begabten älteren Brüdern Henry und William konkurrieren kann. Eine Tochter, deren durch und durch konventionelle Mutter ihren außerordentlichen Fähigkeiten hilflos gegenübersteht. Eine junge Frau, die sich niederlegt, um nicht mehr aufzustehen, als der von ihr gepflegte verwitwete Vater stirbt, ohne ihr, neben den Brüdern, noch ein Wort zu widmen. Eine Patientin, der es an nichts und der „nichts fehlt“, und die dennoch von manifesten Symptomen so belagert wird, daß sie schließlich die Krankheit bewohnt, die ursprünglich bei ihr zu Gast war: Die letzten 14 Jahre ihres Lebens verbrachte Alice im Bett. Für einen Analytiker die Idealpatientin, für ein modernes Drama die ideale Hauptfigur. Bei ihr schießt alles zusammen, was die Frauenbewegung in Verbindung mit der aufgeklärten Variante von Psychoanalyse und Sozialgeschichtsschreibung ermittelt hat; sie ist die bestmögliche Verbindung von Expressivität und Erstickungstrauma, Bewegungsdrang und verordneter Passivität, Lebenswillen und trotzigem Rückzug in die weibliche Domäne, das Bett. Und, verglichen mit Shakespeares Schwester hat sie einen unschätzbaren Vorteil: sie hat wirklich gelebt, und sie hat ein Tagebuch hinterlassen. Ihr Leben ist durch sie und ihre Umgebung reich dokumentiert, und ihr Psychologenbruder William hat aparterweise ein Buch geschrieben mit dem Titel The Hidden Self.

Es liegt eine besonders furchtbare Ironie darin, daß Alice James selbst und ihre Umgebung den Konflikt, dessen Ausdruck ihre Krankheit wohl war, ahnen und sogar benennen, aber nicht lösen können. Alices „tragische Gesundheit“ ist flankiert von einer so mächtigen analytischen Intelligenz, daß es ihr verboten ist, sich, wie Christian Buddenbrook und wie unzählige reale Zeitgenossinnen, einfach als Kranke zu begreifen. Das Bewußtsein ist mit jener eigentümlichen und grausamen Unmöglichkeit verbunden, eine Einsicht zu vergessen, und so ist Alice, neben den sie quälenden Symptomen, auch noch dem größtmöglichen zusätzlichen Druck ausgeliefert: dem der Verantwortung. Niemand kann sie heilen, „die Zeiten sind nicht danach“, sie bleibt Opfer der Umstände und einer Disposition, für die es keine Verwirklichung zu geben scheint. Sie hat das Pech, von starken Depressionen, von Todessehnsucht und manifesten Symptomen bereits in einem Alter heimgesucht zu werden, in dem die Person noch ganz und gar wehrlos ist, in dem es noch nicht möglich ist (wie es George Sand, Sarah Margaret Fuller, Bettina von Arnim und wenigen anderen möglich war), mit den Konventionen zu brechen und dem Einverständnis mit sich selbst das mit der Umgebung zu opfern. „Wenn ich unbeweglich in der Bibliothek saß“, erinnert sich die Erwachsene an ihre Kindheit und Jugend, „und mich plötzlich Wellen des heftigsten Bedürfnisses überfielen, die solche Impulse auslösten, wie mich selbst aus dem Fenster zu stürzen oder dem gütigen Vater, wie er mit seinen Silberlocken am Tisch saß und schrieb, den Schädel abzuschlagen, so schien mir der einzige Unterschied zwischen mir und einer Wahnsinnigen darin zu bestehen, daß ich nicht nur Schrecken und Schmerz der Krankheit zu erleiden, sondern auch noch die Pflichten eines Arztes, einer Krankenschwester und einer Zwangsjacke zu erfüllen hatte.“ Krank sein und verantwortlich dafür — eine der entsetzlichsten Errungenschaften des analytisch-dialektischen Denkens, weil es dem Leiden noch das Schuldgefühl beigesellt und jene narzistische Erholung in Mitleid und Selbstmitleid verbietet, die jede normale Kranke umstandslos für sich beansprucht. Gesundheit als Metapher bedeutet auch, daß Hilfe von außen nicht möglich ist, daß die Kranke keinen kranken Teil mehr hat, den sie von sich abspalten könnte, um an dieser Spaltung gesund zu werden. Gesundheit als Metapher heißt: das hast du dir selbst zuzuschreiben, mein Kind; dir selbst und womöglich den Umständen, die nicht so sind, wie sie sein sollten, das geben wir gerne zu. Du mußt nur gesund werden wollen, sagen Henry und William und die Krankenschwester sanft. Aber niemand sagt ihr, wo sie das Wollen lernen kann. Und niemand erklärt ihr, wie man wollen müssen kann.

Susan Sontag hat ein Stück über Alice James geschrieben, Volker Hesse hat es für das Bonner Schauspiel welturaufgeführt und dabei das Bestmögliche erreicht. Alice befindet sich eingangs in einem Matratzenturm, fünf Lagen über und fünf unter sich, sie selbst so eingequetscht, daß nur ein bloßer Arm herausragt. Und auf dem Matratzenturm sitzt eine blonde Matrone in Schwesterntracht, die Kranke ausbrütend wie eine fette Henne ihr Küken, und sagt: „Natürlich können sie aufstehen.“ Der Einstieg ist also gelungen und komisch und an Deutlichkeit schwerlich zu überbieten. Beim Letztgenannten wird es bleiben.

Bruder James, die innigste Verbindung zur Außenwelt (Susan Sontag berücksichtigt die reale Freundin Katharine, die Alice in den Tod pflegte, nicht), wird gleich zu Besuch kommen, da heißt es also sich fertig machen wie zu einem Rendevouz: mit Injektionen gegen die Schmerzen, mit einem Spiegel und einem bißchen Rouge und Puder zur Wiederherstellung der Weiblichkeit. Die unnütze viktorianische Weiblichkeit, in ihrer Unnützlichkeit zur Absurdität gesteigert bei diesem date zwischen der invaliden Schwester und dem homosexuellen Bruder. Die ihr verabreichten Injektionen werden zur äußersten Brutalität gesteigert durch die Art, wie Sontag bzw. der Regisseur sie in Szene setzen: Es kommen zwei halbnackte Folterknechte in Gummischürzen, mit einer riesigen Spritze bewehrt, die das Geschäft der Zwangsjacke übernimmt: Stillegung.

So plakativ wird es weitergehen. Susan Sontag und Volker Hesse lassen wenig aus: Der Vater hat eine pedantische Stimme und ist ein Zwerg (der reale Vater war einbeinig), der, weißhaarig und geistesabwesend, von einem riesigen Sessel aus mit seiner hilflos klagenden Tochter spricht. Die Mutter ist überlebensgroß, in Weiß gekleidet wie ein Elefant, mit einem Hut auf dem Kopf, der einer Hutschachtel ähnlich sieht. Bruder James ist ein abgelebter Lebemann, der müde und gönnerhaft zu seinem „einzigen, liebsten Mädchen“ spricht, es verzärtelt und zugleich fürchtet. Und Alice selbst (grandios gespielt von Monika Kroll) hat das leidenschaftliche und strenge, von Willensstärke gezeichnete Gesicht der realen Kranken, das Ungestüm, die qualvolle Egozen

trik, die Phantasie und monströse Hellsichtigkeit, die dem Tagebuch der Alice James abzulesen sind.

Es ist also alles, wie es sein sollte. Den surrealen Dialogen von Alice mit ihrer Familie, den Lebenden und Toten, zum Schluß mit einem Einbrecher (dem sie Angst macht mit ihrer Furchtlosigkeit) fügt Susan Sontag noch ein imaginäres, semi-historisches Stelldichein hinzu: An einem endlos scheinenden Teetisch (wie jener in Alice in Wonderland, an dem die Hauptfigur mit dem Schnapphasen und anderen Tee trinkt, in einem fort die Plätze wechselnd, im Reich der Ewigkeit angekommen) treffen sich Margaret Fuller, Emily Dickinson und die mythischen Frauen Myrtha und Kundry. Und endgültig dann besiegt einen der Einruck, nicht mehr im Theater zu sitzen, sondern in einem Volkshochschulkurs über Frauenidentität. Es ist alles so wunderbar aufbereitet, daß man es nur noch glauben muß: da gibt es die viktorianische Emily, die besserwisserisch mit ihrer Nickelbrille hantiert und sich im provinziellen Stillstand eingerichtet hat. Da gibt es die überaus lebensfrohe Margaret Fuller (amerikanische Intellektuelle und Frauenrechtlerin), die mit beiden Beinen so fest im Leben steht, daß sie mit den Absätzen Löcher ins Pflaster drückt. Da gibt es die schläfrige, verführerische Kundry, Sklavin und Zauberin der Gralsritter. Und schließlich die rächende Myrtha, legendäre Königin des Tanzes und des Zorns. Das ist alles sehr plausibel und könnte auch ganz anders sein: statt Emily Dickinson die Günderode, statt Margaret Fuller Luise Otto Peters, statt Kundry und Myrtha zwei andere Projektionsfiguren der europäischen Dichtung.

Die Beliebigkeit liegt nicht in der Wahl der Figuren, sondern in ihrer Behandlung: sie dürfen ein paar gestanzte Sätze sprechen, sie dürfen sentenziös ihr Leben auf den Punkt bringen (wobei auch dieser Punkt gewählt ist: die im Stück so helle Emily saß im Gedicht mit ihrem Tod in einer Kutsche), sie dürfen mit Alice ein munteres, nicht unkluges Gespräch bestreiten. Aber sie werden nur aufgeboten als Entwürfe, Rollen eines Lehrstücks, das kein neues mehr ist.

Susan Sontag als Dramatikerin: ein Mißverständnis. Verglichen mit ihren literarischen Essays über Sarraute und Genet, Leiris und Pavese, Ionesco, Burroughs und anderen, verglichen mit diesen strengen, dialektischen, unglaublich genauen und zugleich eigenwilligen Analysen ist dieses Theaterstück ein durch und durch konventioneller, an eben dieser Konventionalität gescheiterter Versuch, eine Einsicht auf die Bühne zu bringen. Sontag ist nicht in der Lage, einen allzu schlichten Satz zu schreiben, aber die Unruhe ihrer Prosa, die konzentrierte Arbeit mit Widersprüchen, die Rücksichtslosigkeit des sprachlichen Eindringens, die sezierende Arbeit an und mit Metaphern kann auf die Bühne nicht übertragen werden. Was in jedem Essay goutiert wird — das Diktum, die Sentenz, die sprichwörtliche Klugheit —, ist in einem Drama, das auch auf Identifikation setzt, auf Einfühlung und die Wehrlosigkeit des Publikums, nur in kleinen Dosen zu ertragen. Wenn eine von Tschechows Schwestern sagen würde: „Das Leben geht dahin“, dann wäre dies kein Merksatz, sondern ein schwebendes Wort, Ausdruck einer Stimme, die sich nicht vorstellt, sondern untergeht in diesem unaufhörlichen Konzert von weggesprochenen und nicht eingesehenen Wahrheiten. Wenn Margaret Fuller ausruft: „Meine Idee ist folgende. Fordre, wozu du fähig bist und wozu du fähig bist, es zu fordern, und sei dir über die Sache vollkommen im Klaren und: lebe danach“, dann klingt das wie die Posaune beim Jüngsten Gericht, und wir ahnen plötzlich, wie das im Theater aussehen wird: eine Sondervorstellung der Heilsarmee, Kommando „Feminismus einst und jetzt“.

Susan Sontag: Alice im Bett. Regie: Volker Hesse. Bühne: Wolfgang Reuter. Mit Monika Kroll, Michaela Mazac, Mathias Hermann, Michael Markfort, Wolfgang Hepp, Oga Strub, Isis Krüger. Schauspiel Bonn. Nächste Aufführungen: 23., 25., 27., 28. und 30.9.

Literatur: Alice im Bett . Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Wiens, beim Verlag der Autoren; 80 Seiten, broschiert, 22 DM.

The Diary of Alice James , edited and with an introduction by Leon Edel; London, 1965