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Armenien auf eigenen Füßen

Traumergebnis bei der Abstimmung über die Unabhängigkeit/ Jelzin und Nasabarjew leiten erste Gespräche über eine friedliche Beilegung des Berg- Karabach-Konflikts  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Die übereilte Selbstliquidierung des Moskauer Zentralstaates hat auch die Armenier mit einer zusätzlichen Portion Selbstbewußtsein ausgestattet. Am Wochenende nahmen 92 Prozent der wahlberechtigten Armenier an der Abstimmung für die Unabhängigkeit teil. 99 Prozent stimmten mit Ja. Damit übertraf Eriwan noch die Ergebnisse der Nachbarrepublik Georgien, wo sich im März 98,93 Prozent für einen selbständigen Staat aussprachen. Im Gegensatz zu Georgien ist die Bevölkerung Armeniens homogen. Ethnische Minderheiten machen nur einen verschwindend geringen Teil der Gesamtbevölkerung aus. Insbesondere nachdem 250.000 Azeris, die größte Minderheit, im Zuge der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan die Republik verlassen haben.

Armenien hatte schon im vergangenen Jahr sein Austrittsvorhaben bekundet, im Unterschied zu den anderen Aussteigerrepubliken sich aber verpflichtet, dabei den in der noch gültigen sowjetischen Verfassung vorgegebenen Weg einzuschlagen. Sie sieht eine fünfjährige Übergangsperiode vor. Dies wurde nunmehr hinfällig. Völlig will Eriwan jedoch nicht mit Moskau brechen. Zwischen politischen und wirtschaftlichen Interdependenzen mit der ehemaligen Kapitale will man unterscheiden. „Wir können und wollen die sofortige politische Unabhängigkeit erklären, aber dennoch an der zwischenrepublikanischen Union teilnehmen“, sagte der Präsident mit Blick auf das Wirtschaftskomitee, das unter Führung Iwan Silajews für die Übergangsperiode bis zu neuen rechtlichen Vereinbarungen zwischen den Republiken die wirtschaftlichen „Gesamtinteressen“ wahrnehmen soll. Noch im Frühsommer hatte es in Eriwan Bedenken gegeben, die Bevölkerung könnte vor einem endgültigen Bruch zurückschrecken. Die bürgerkriegsähnliche Situation mit der Nachbarrepublik Aserbaidschan war dafür wohl ausschlaggebend. Das Zentrum unterstützte das moskautreue Aserbaidschan. In Armenien blieb der Eindruck zurück, Moskau segne die Brutalität ab, mit der aserbaidschanische und sowjetische Einheiten Bewohner der mehrheitlich von Armeniern besiedelten Enklave Nagorny- Karabach aus ihrer Heimat vertrieben. Man sah darin einen Versuch des Zentrums, Armenien durch Einschüchterung bei der Stange zu halten.

Zwei Faktoren entfallen mithin: Das Zentrum existiert nicht mehr, und die militärische Hilfe für den ehemaligen Vasallen Moskaus, den aserbaidschanischen Präsidenten Mutalibow, versiegt. Noch stationierte Truppen werden wohl über kurz oder lang abgezogen. Ein Fortschritt aus armenischer Sicht. Doch der Konflikt um die Enklave, den Rußlands Präsident Boris Jelzin und Kasachstans Nummer eins Nasarbajew gerade auf einen Verhandlungsweg hieven wollen, ist noch lange nicht ausgestanden. Und im Hintergrund lauert das armenische Trauma. Mutalibow spielt in aller Deutlichkeit die türkische Karte, nach innen wie nach außen. Ostentativ zeigt er seine Bewunderung für den Nachbarstaat. Noch allerdings fehlt ihm das Geld, sich dort Waffen zu besorgen.

Die gemeinsame Aktion Rußlands und Kasachstans um Karabach erfüllt somit zwei Anliegen. Zum einen muß dem Blutvergießen in der Region ein Ende gemacht werden. Vielleicht können sich die Streitparteien im russischen Schelesnowodsk sogar langfristig auf einen Waffenstillstand einigen. Ein Kommuniqué soll von beiden Seiten unterzeichnet werden, dessen Inhalt aber bisher nicht bekannt wurde. Die Teilnahme Nasarbajews als Präsident einer moslemischen Republik dokumentiert Ausgewogenheit. Sie mag beschwichtigend auf Aserbaidschan wirken. Indes schickt sich Jelzin an, trotz des überwältigenden Unabhängigkeitsbekenntnisses Armeniens weiterhin die historische Rolle der Russen als Garantiemacht der Kaukasusrepublik zu übernehmen. Wenn überhaupt ein Russe, dann muß es Boris Jelzin machen. Denn Gorbatschow hatte als Statthalter der Zentralmacht seine Glaubwürdigkeit schon lange verspielt.

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