: Projektionen
■ Was heißt "Europäisierung" der jugoslawischen Krise?
Projektionen Was heißt „Europäisierung“ der jugoslawischen Krise?
Die Balkanpolitik der europäischen Mächte nach dem Ersten Weltkrieg wie auch die Abgrenzung der Einflußsphären in der Region nach der Niederlage Hitlerdeutschlands hatte neben vielen scheußlichen auch ihre rationale Seite. Es war wenigstens klar, welche Interessen im Spiel waren. Das läßt sich angesichts der jugoslawischen Krise kaum behaupten. So, wie es aussieht, projizieren die westlichen Europäer wie auch die KSZE- Staaten nur die Widersprüche ihrer eigenen Integrationsprozesse auf die jugoslawische Krise. Auf der Berliner Konferenz der KSZE wurde zwar ein europäischer Mechanismus der Krisenbewältigung ins Leben gerufen. Aber indem die Konferenz die „jugoslawische“ Linie des Premiers Markovic absegnete, weigerte sie sich, diesen Mechanismus in Gang zu setzen. Nach dem Angriff auf Slowenien verfiel die deutsche und, ihr folgend, die italienische und französische Diplomatie in das entgegengesetzte Extrem: Jetzt sollte Jugoslawien zum Testfall der künftigen einheitlichen europäischen Politik werden.
Nichteinmischung wie Intervention entsprangen einer prinzipienlosen Haltung, denn sie reflektierten am Beispiel Jugoslawiens nicht das alle europäischen Staaten betreffende Verhältnis von Supranationalität, Selbstbestimmungsrecht der Nationen und Autonomie der Regionen. Offensichtlich kann aber die jugoslawische Krise nur gelöst werden, wenn über die grundlegenden Standards im europäischen Rahmen Einigkeit hergestellt wird. Weder gibt es in Westeuropa ein Recht zur Sezession vom Nationalstaat, noch sind die Rechte von Minderheiten im europäischen Rahmen geschützt. Weder gibt es für sie eine europäische Charta, noch ist ihre eigenständige supranationale Vertretung — etwa in Form einer zweiten Regionalkammer des Europa-Parlaments — in Sicht. Kann aber beispielsweise von der serbischen Minderheit in Kroatien verlangt werden, sie solle sich in einem künftigen kroatischen Nationalstaat lediglich mit innerstaatlichen Zusicherungen, so feierlich diese auch sein mögen, zufriedengeben?
Diese Sachlage vorausgesetzt, ist es ebenso überheblich wie leichtfertig, mit scheinbar konsistenten Lösungen für „Jugoslawien“ vorauszupreschen, die dieser Krise zugrunde liegenden Probleme aber als europäische zu ignorieren. Die durch die Nordirlanderfahrung gewitzte, mit bescheidenen Zielen operierende englische Diplomatie ist gewiß der europäischen Herausforderung durch die jugoslawische Krise unangemessen. Aber sie drückt wenigstens ein materielles Interesse aus: daß englische Soldaten nicht auf dem jugoslawischen Feld der Ehre ihr Leben lassen müssen. Christian Semler
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