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Die Insel vor der Insel sieht Land

■ Die Exklave Steinstücken, einst Kristallisationspunkt der Berliner Teilung, hat sich von einer Touristenattraktion in ein stinknormales Dorf verwandelt/ Über die Berliner: »Wir waren nur die Zuspitzung ihrer eigenen begrenzten Realität

Zehlendorf. Bis 1972, als die Straße nach Zehlendorf den Steinstückenern endlich die visumfreie Einreise nach West-Berlin, sozusagen die Anbindung ans »Festland«, ermöglichte, war Steinstücken eine Insel — eine Insel vor der Insel. In den Jahrzehnten vor dem Berlin-Vertrag von 1971 gab es nur den schmalen Waldweg. Auf beiden Seiten der gut anderthalb Kilometer befand sich ein Vopo-Posten. »Die haben unsere Fetzen dermaßen kaputtkontrolliert damals, daß wir alle sechs Monate einen neuen beantragen mußten.«

Mit leuchtenden Augen erzählt Gert Knecht »von damals«, vom Alltag der rund 200 Bewohner eines der umstrittensten Fleckchen Berlins in den Zeiten des Kalten Krieges: der Exklave Steinstücken. Kaum irgendwo sonst war der Eindruck vom Todesstreifen eindringlicher als hier, an kaum einem anderen Ort das Absurde der innerstädtischen Grenze augenfälliger als im schmalen Korridor zwischen den beiden Zehlendorfer Ortsteilen Kohlhasenbrück und Steinstücken. Bis zum Berliner Vertrag 1971, der den Status der umstrittenen Exklave endgültig klärte, war Steinstücken ein rechtsfreier Raum gewesen. »Polizei und Zollbehörden hatten hier keinerlei Zutritt«, freut sich Knecht noch nachträglich, »ebenso wenig wie alle anderen, die nicht in Steinstücken gemeldet waren.«

Für das Dilemma, daß in den Zeiten des Kalten Krieges keiner von »draußen« rein durfte, hatten die Bewohner ganz unkonventionelle bürokratische Lösungen parat: Zweitwohnsitze. »Mein 32. Mitbewohner war der Zulieferer meines Elektroladens.« Gert Knecht lächelt verschmitzt. »Die Leute, die wir dringend brauchten oder gerne hier haben wollten, waren hier mit Zweitwohnsitz gemeldet. Der Rest mußte draußen bleiben.« So zählte das in den 50er und 60er Jahren vorübergehend auf 142 Einwohner zusammengeschrumpfte Dorf vor den Toren Babelsbergs auf dem Papier rund 1.000 Seelen.

Als Ausflugsziel passé

Die Wende holte die kleine eingeschworene Gemeinschaft aus ihrem Schlummer heraus. Seinen familiären Charakter hat das Dorf, so scheint es, bislang bewahren können. Mit der Idylle allerdings ist es vorbei — die Bernhard-Beyer- Straße, die früher als Sackgasse an der Mauer endete, ist heute Durchgangsstraße. Das Schild »You are leaving the american sector«, das an dieser Stelle das Ortsende markierte, ist ebenso wie der »antifaschistische Schutzwall« längst auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandet: Auf einer Deponie am Rande der Siedlung wartet die mittlerweile feinsäuberlich zerkleinerte Beton-Altlast auf weitere Entsorgung — sei es als Kies für die Schlaglöcher dazwischen, sei es als Mini-Souvenir.

Im Ort selbst wird das Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung von 20 Stundenkilometer von den Autofahrern schlechterdings ignoriert. An der Stelle, wo es früher nur eins gab, umkehren, lärmen heute stündlich Hunderte von PKWs in Richtung Babelsberg; nur der spürbare Übergang von Asphalt zu Kopfsteinpflaster erinnert noch vage an die Vergangenheit.

Und Udo Pieper, der mit seinem »Taubenschlag« seit 1972 eine gutgehende Gartenkneipe führte, muß sich heute nach neuen Gästen umsehen: Für die Berliner ist Steinstücken kein Ausflugsziel mehr — sie fahren lieber nach Sanssouci in Potsdam, wandeln auf den Spuren Fontanes durch die Mark oder führen auf dem ehemaligen Todesstreifen ihre nagelneuen Mountain Bikes spazieren. Doch für Kundenersatz hat ebenfalls die Wende gesorgt: Als in den Tagen nach der Novembernacht die Anwohner der gegenüberliegenden Steinstraße die ersten Löcher in die Mauer klopften, wurden sie dabei von Vopos und Steinstückenern schlagkräftig unterstützt. So zählen seit den Novembertagen die neuen alten Nachbarn zu Piepers Stammgästen.

Begafft wie im Zoo

Erstmals aus seinem Dornröschenschlaf gerissen wurde Steinstücken 1971 nach der Ratifizierung des Berlin-Vertrags. Die Verbindungsstraße und damit die eindeutige Zugehörigkeit zum Westsektor erlaubte allen Berlinern sowie zahllosen Touristen, die Skurrilität dieser Exklave persönlich in Augenschein zu nehmen. »Wir wurden begafft wie die Tiere im Zoo«, erläutert Knecht, »die Westberliner fragten: Wie kann man hier nur leben? Dabei waren wir doch nur die Zuspitzung ihrer eigenen begrenzten Realität.«

Die Steinstückener haben, wenn man mal absieht von der ständigen Angst, möglicherweise doch Gegenstand und Mittelpunkt einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den Siegermächten zu werden, recht entspannt im Schatten der Mauer gelebt.

»Paradiesisch waren die Zustände in unserem sozialen Biotop«, sagt Udo Pieper, der Wirt vom »Taubenschlag«, stadtbekannt wegen seines selbstgemachten Kuchens. »Jeder kannte jeden, hier herrschte immer Sonntagsruhe.« Bevor die Straße fertig war, schlossen die Leute nach den Worten Piepers nicht mal ihre Häuser ab, denn wer hätte hier schon klauen sollen?

Abschied von den GIs

Die geschichtsträchtige Exklave — sie ist dabei, zu einem stinknormalen Dorf zu werden. Daß die Nachkriegsgeschichte Steinstückens zumindest seinen Bewohnern in Erinnerung bleiben wird, dafür sorgt das dorfeigene Luftbrückendenkmal: zwei sechs Meter lange, gen Himmel gestreckte Hubschraubermotoren. Nahezu vollständig haben sich die Steinstückener an diesem sonnigen Augustsamstag vor ihrem Mahnmal versammelt, um Colonel Dougles Powell, den scheidenden Commander des US-Airborne Detachement Berlin, zu verabschieden.

Dieser Akt der Völkerverständigung auf kleinstkommunaler Ebene treibt vielen die Tränen in die Augen; für die Steinstückener, für eine Handvoll neuer Nachbarn aus dem angrenzenden Babelsberg und für die GIs, die an diesem Nachmittag den Dankesreden lauschen, sind die »Wings of Freedom« (Flügel der Freiheit), die die Freizeit-Shirts der Amerikaner zieren, Programm. Und die Steinstückener selbst? Sie sollten und wollten über Jahrzehnte, koste es was es wolle, Westberliner sein. Über alle Krisen hinweg half ihnen dabei die verwaltungsmäßige Zugehörigkeit zu Zehlendorf. Doch das interessiert heute niemanden mehr, und was die täglichen Besorgungen angeht, suchen die Steinstückener jetzt wieder den Ort auf, der ihnen schon immer näher lag: Sie fahren nach Potsdam, in den Osten. Die Insel vor der Insel sieht Land. Henk Raijer/Gunda Schwantje

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