Der Kampf zweier Kulturen

Zur Situation der Literatur im Iran  ■ Von Ahmed Taheri

Die Aufhebung des Boykotts gegen iranische Verlage auf der diesjährigen Buchmesse wird heftig diskutiert. Wenig ist aber darüber bekannt, was in der islamischen Republik gedruckt und gelesen wird. Anscheinend stellt man sich hierzulande vor, unter den Mullahs werden nur noch der Koran, Heiligengeschichten, fundamentalistische Pamphlete oder „Gesammelte Mordbefehle des Imam Chomeini“ verlegt.

Die klerikale Herrschaft in Teheran hat zweifellos viel Unheil angerichtet. Doch eine kulturelle Wüste ist die islamische Republik keinesfalls. In den zwölf Jahren ihres Bestehens wurden weit mehr Bücher geschrieben, übersetzt, gedruckt und gelesen als in der vierzigjährigen Herrschaft des Schahs: Belletristik, historische, philosophische, politische, soziologische Werke — und freilich Bücher religiösen Inhalts. Die persische Prosa erlebte nach der Revolution eine Blütezeit ohnegleichen. Mahmud Daulatabadi, von dem kürzlich beim Schweizer Unionverlag die Novelle Der leere Platz des Salutsch erschienen ist, schuf mit Kalidar in den achtziger Jahren den ersten persischen Roman von epischer Breite. Sein fünfbändiges Werk, ein hintergründiges Hirtenepos von mehreren tausend Seiten, wurde vierzigtausendmal verkauft. Huschang Golschiri, ein Autor, der aus seiner linken Gesinnung keinen Hehl macht, war nicht weniger erfolgreich. Seine Erzählung Prinz Ehtijab, die Geschichte eines persischen Aristokraten, vor dessen Augen die alte Welt zusammenbricht — eine Art iranischer Oblomow —, setzte der persischen Prosa innovatorische Maßstäbe.

Auch die Frauen griffen aus dem dunklen Tschador, hinter den man sie mit Peitschenhieben verbannt hatte, zur Feder auf der Suche nach der verlorenen Freiheit. Die Autorin Schahrnusch Parsineschad zum Beispiel sorgte mit ihren Romanen für Aufsehen. In ihrem ersten Buch Tuba und der Sinn der Nacht erzählt sie die Lebensgeschichte einer Frau aus gehobener Schicht, die nach einer fünfzigjährigen politischen und privaten Odyssee feststellen muß, wie trost- und sinnlos ihr Dasein als Frau vertan ist. Furore machte ihr zweiter Roman Die Frauen ohne Männer. In surrealen, phantastischen Bildern ließ die Autorin ihre Protagonisten, fünf Frauen, in einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit ihre sexuellen Wünsche nach Herzenslust ausleben. Als das Buch im nachhinein verboten und die Autorin für einige Wochen eingesperrt wurde, zirkulierte der Roman bereits tausendfach im Original und in Fotokopien.

Noch mehr als einheimische Romane hat nach der islamischen Revolution Belletristik aus dem Ausland Hochkonjunktur. „Hundert Jahre Einsamkeit. Hundert Seiten für hundert Tuman“, bot ein Büchertisch vor der Universität in Teheran noch vor einigen Jahren das Werk von Marquez kapitelweise an mittellose Studenten feil. Auch Übersetzungen aus westlichen Sprachen kamen in großer Zahl auf den persischen Büchermarkt. Das Interesse für europäische Literatur im Iran ist freilich viel älter als der schiitische Gottesstaat. Ende des vergangenen Jahrhunderts erschienen die ersten Übersetzungen, und zwar aus dem Französischen. Die französische Literatur beherrschte bis in die sechziger Jahre dieses Jahrhunderts die intellektuelle Szene Persiens. Die französischen Symbolisten Verlaine und Rimbaud wurden in den fünfziger Jahren von der akademischen Jugend mehr gelesen als die persischen Dichterfürsten Hafes und Sadi; die jungen Gymnasiasten trugen Sartre und Camus unter dem Arm. Die Frankomanie ging so weit, daß im Teheraner Literatentreff Café Ferdausi, genannt auch Montparnasse, ein beleibter Feuilletonist, der am Tag zwei Dutzend Kaffee trank, von den Gästen mit „Lieber Honore“, vom Kellner mit „Monsieur Balzac“ angesprochen wurde.

Mit zunehmendem politischem und wirtschaftlichem Einfluß der USA ab Mitte der sechziger Jahre kamen die englischsprachigen Autoren an die Reihe, Faulkner und Hemingway, Joyce und Beckett. Deutschsprachige Dichter und Denker sollten erst mit dem Sieg der islamischen Revolution zum Zuge kommen. Die im deutschen Exil lebenden iranischen Linksintellektuellen kehrten nach dem Sturz des Schahs nach Hause zurück. Um einiges an politischen Hoffnungen gebracht, widmeten sich viele von ihnen der Geisteswelt ihres vormaligen deutschen Gastlandes. Bald lagen auf den Tischen der Buchhandlungen die Übersetzungen von Thomas Mann, Robert Musil, von Bertolt Brecht und Arthur Koestler, Max Frisch und Dürrenmatt, Günter Grass und Heinrich Böll. Der letztere wurde zum Symbol der zeitgenössischen deutschen Prosa.

Doch weit mehr als die deutsche Belletristik erfreuen sich die hochintellektuellen Erzeugnisse aus Deutschland der persischen Bewunderung. Während sich die Damen der besseren Gesellschaft an der leichteren Kost wie Süskinds Parfüm ergötzen, erbaut sich die gebildete Jugend am Werke von Kant, Hegel, des jungen Marx oder Marcuse und Hannah Arendt. Die Lektüre der Passagen von Walter Benjamin ist zur Zeit der letzte intellektuelle Schrei. Indessen kommt die persische Lesewut nicht von ungefähr. Die islamische Revolution, diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, löste eine intellektuelle Neugier auf das eigene Erbe wie auf fremdes Gedankengut aus, die ungestillt bis heute anhält. Aus purer Wißbegier oder aus dem Ehrgeiz, die Waffen des Gegners zu beherrschen, lesen die Mullahs inzwischen Hegel, Marx, Freud und Heidegger, während die Linken sich mit dem Koran, der Prophetenvita oder Mullah Sadra, dem Existentialphilosophen der Schiiten, abmühen. Hinzu kommt, daß Bücher in der islamischen Republik die einzige Nahrung für Herz, Kopf und Seele sind. Die außereheliche Liebe wird mit 83 Peitschenhieben gesühnt, es gibt keine Disko, keine Bar, kein Caféhaus, wo Männer und Frauen zusammenkommen können. Die beiden Fernsehprogramme bestehen hauptsächlich aus ausgedehnten Nachrichten und Kommentaren, in denen die globalen Frevel des großen Teufels USA unentwegt angeprangert werden. Ansonsten schwatzen die finsteren Mullahs stundenlang über das „Erlaubte und Unerlaubte“ im muslimischen Alltagsleben. Auch im Kino gibt es in der Regel neben persischen Streifen über Krieg und Märtyrertum nur Revolutions- und Heldenfilme aus den einstigen sozialistischen Ländern, in denen nicht geflirtet und geküßt wird, oder martialische Samurai-Melodrame aus Japan. In den japanischen Filmen, wo die Helden gelegentlich zur Geisha gehen, heißt es in der persischen Synchronisation dann eben: „Ich gehe jetzt zum Frisör!“

Der Mordbefehl des Ayatollah Chomeini gegen Rushdie, eine einmalige Entscheidung aus politischer Opportunität, erweckte im Westen den Eindruck, im Iran herrsche, wie in der Sowjetunion zur Zeit Stalins, die Gleichschaltung des kulturellen Lebens. Doch im Vergleich zum Schah geben sich die Mullahs, was den Umgang mit Literatur angeht, von ausgesprochener Konzilianz — mit Ausnahme der Ungeheuerlichkeit des Mordangriffs gegen Salman Rushdie. Das Schahregime basierte auf nackter Gewalt und entbehrte jedes ideologischen Rüstzeugs. Der Kaiser hatte geradezu eine Phobie gegenüber allem Geschriebenen, das irgendwie nach links roch. Die klerikale Macht aber blickt auf eine tausendjährige weltanschauliche Tradition zurück und ist daher ideologisch selbstbewußt. Sie will nicht den Anschein erwecken, daß sie die intellektuelle Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen fürchtet. Außerdem gehen die Mullahs davon aus, daß das weltliche Schrifttum nur von denen gelesen werde, die ohnehin keine Anhänger der religiösen Herrschaft sind.

So ist nur ein Teil der 130 Verlage, die heute im Iran für eine potentielle Leserschaft von 20 Millionen Bücher produzieren, in staatlicher Hand oder mit der herrschenden Macht politisch oder personell verbunden. Doch auch diese Verlage, zu denen die iranischen Teilnehmer an der Buchmesse gehören, sind nicht nur Brutstätten des fundamentalistischen Ungeistes. Der finanzkräftige Amir Kabir Verlag zum Beispiel, der als das größte persische Buchunternehmen an der Messe teilnimmt, verdient sein Geld hauptsächlich mit klassischen europäischen Autoren wie Balzac, Stendhal, Dostojewski und Tolstoi oder mit Werken der persischen Dichtung von Hafese, Sadi und Maulana. Von der vom Verlag herausgegebenen Kant-Übersetzung wurden 111.000 Exemplare verkauft. Selbst die Irschad-Publikation, die dem Ministerium für islamische Erziehung untersteht und ebenso auf der Messe vertreten ist, verlegt hauptsächlich die klassischen Werke der islamischen Literatur und Geschichte sowie Bücher über die modernen Naturwissenschaften. Das Interesse der klerikalen Macht an diesen Verlagen ist eher finanzieller als ideologischer Natur. Für die ideologische Propaganda haben die staatlichen Institutionen jeweils ihre eigenen Publikationen. Gegängelt werden die Verlage hauptsächlich über die Papierpolitik. Während der staatstragende Teil der Bücherzunft den Löwenanteil am subventionierten Papier erhält und so seine Erzeugnisse billig an den Mann bringen kann, werden die unabhängigen Verlage kurzgehalten. Schlägt ein Verlag über die Stränge, so wird ihm das billige Papier verkürzt oder gar entzogen.

Für die Verteilung des Papiers sowie für die Zensur ist das Ministerium für islamische Erziehung zuständig. Überprüft wird ein Buch erst dann, wenn es gedruckt und gebunden vorliegt. So sind die Autoren und Verleger zur Selbstzensur angehalten, sollen nicht ihre Arbeit und Kosten umsonst gewesen sein. Auf der Strecke bleiben in der Regel die ausgesprochen antiislamischen Schriften sowie die Bücher von „unmoralischem Inhalt“, das heißt mit allzu unverhüllten erotischen Beschreibungen. Angriffe auf den verstorbenen Imam indes werden mit Kerker bestraft. Es gehört zu den Paradoxien des real existierenden iranischen Gottesstaates, daß der oberste Zensurchef, der Minister für islamische Erziehung Hudschatall Islam Mohammad Chatami, als emphatischer Verfechter des freien Wortes auftritt. „Das Verbot löst keine Probleme“, sagte der gebildete Mullah kürzlich, „in der offenen Auseinandersetzung mit anderen Kulturen wächst der wahre Geist des Islam.“ „Die Meinungsverschiedenheiten in meiner Gemeinde“, zitierte Chatami einen angeblichen Prophetenspruch, „sind Zeichen von Gottes Barmherzigkeit.“

Die säkularen Intellektuellen haben sich schon längst im Gottesstaat diverse Freiräume erlistet. Der Zugang zu den Massenmedien ist ihnen zwar nach wie vor verwehrt, doch in den literarischen Zeitschriften, deren Auflagen gering, deren Einfluß aber groß ist, melden sie sich politisch zu Wort. Die führende Intellektuellen-Zeitschrift 'Adina‘ — 'Der Freitag‘ — sorgt mit verschiedenen politischen und literarischen Themen für einen säkularen intellektuellen Zusammenhang als Alternative zur herrschenden religiösen Kultur. Mit Bewunderung, Respekt oder Neid verfolgen indes die persischen Emigranten die erstaunliche Leistung dieses Monatsmagazins. Keine der persischen Zeitschriften im Ausland, geschrieben und gedruckt in Freiheit, konnte auch nur annähernd das Niveau des 'Freitag‘ erreichen. Die islamische Republik Iran ist also keine intellektuelle Einöde. Im Reiche des Ayatollahs geht der Kampf zweier Kulturen weiter.