: Turbulenzen beim „Tagi“
Proteste gegen Absetzung des Chefredakteurs und die Veränderung der publizistischen Linie beim Zürcher 'Tagesanzeiger‘ halten an ■ Aus Genf Andreas Zumach
Die Mitte September erfolgte Absetzung des Chefredakteurs des Zürcher 'Tagesanzeigers‘, Victor Schlumpf, durch die Verlagsleitung stößt weiterhin auf heftige Kritik bei den LeserInnen der größten seriösen Schweizer Tageszeitung wie auch in anderen Medien.
Der 52jährige Schlumpf, seit 1968 Redakteur und Auslandskorrespondent des liberal-bürgerlichen „Tagi“ und seit 1987 dessen Chefredakteur wurde wegen der kritischen Berichterstattung des Blattes zu Umwelt-, Verkehrs-, und Energiethemen entlassen. Selbst die lokalen Konkurrenten des Blattes, die weltweit renommierte wirtschaftskonservative 'Neue Zürcher Zeitung‘ ('NZZ‘) nannte den Vorgang einen „Rückfall in frühkapitalistische Zustände“.
In einer ganzseitigen Anzeige in der 'NZZ‘ protestierten inzwischen zahlreiche Schweizer Medienschaffende aller politischer Richtungen gegen die Absetzung Schlumpfs, die eine „Gefahr für die Pressefreiheit“ bedeute. Die Verlags- und Geschäftsleitung des Tagi wolle keine Berichte zu den inkriminierten Themen mehr, „die einzelne Inserenten verärgern könnten“, heißt es in der Anzeige. „Aus politischen Gründen“ solle daher die von Schlumpf geplante Rückversetzung eines langjährig mit diesen Themen befaßten Redakteurs von seinem Tessiner Außenposten in die Zürcher Zentralredaktion „verhindert“ werden.
Die Redaktion des 'Tagesanzeigers‘ hatte in einer einstimmig verabschiedeten Erklärung „mit Empörung“ auf die „menschlich und zeitungspolitisch unakzeptable“ Absetzung ihres Chefs reagiert. Die Entlassung sei erfolgt, weil Schlumpf „die Entscheidungsfreiheit und Verantwortlichkeit der Chefredaktion gegen eine Unternehmensleitung verteidigte, die die Zeitung publizistisch immer mehr nach kurzfristig kommerziellen Gesichtspunkten fernsteuern“ wolle.
Für die Redaktion ist die jüngste Maßnahme der Verlagsleitung nur der vorläufige „Endpunkt einer Kette von Entscheidungen, mit denen der publizistische Freiraum von Chefredaktion und Redaktion zunehmend beschnitten wurde“. Dazu gehörten beispielsweise Eingriffe in die Personalpolitik der Chefredaktion. Kritisiert wird von der Redaktion wie von den Unterzeichnern der 'NZZ‘-Anzeige auch, daß die Verlagsleitung den Austritt aus dem Schweizer Zeitungsverlegerverband zum Jahresende 91 sowie die Kündigung der mit den Journalistenorganisationen vereinbarten Tarifverträge beschlossen hat.
Wegen der Vorgänge beim 'Tagesanzeiger‘ wird stärkerer Druck auf die publizistische Unabhängigkeit kleinerer, wirtschaftlich schwächerer Zeitungen befürchtet. Mit täglich 270.000 verkauften Exemplaren und 700.000 LeserInnen ist dieses Blatt die wichtigste deutschsprachige Tageszeitung der Schweiz.
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