Frieden von unten?

■ Die Grausamkeiten zwischen Kroaten und Serben nehmen zu, aber immer mehr Rekruten weigern sich auch, in den Krieg zu ziehen. Die serbische Friedensbewegung, von Müttern und anderen Verwandten der Soldaten initiiert...

Frieden von unten? Die Grausamkeiten zwischen Kroaten und Serben nehmen zu, aber immer mehr Rekruten weigern sich auch, in den Krieg zu ziehen. Die serbische Friedensbewegung, von Müttern und anderen Verwandten der Soldaten initiiert, kann sich nach Umfragen auf eine Mehrheit gegen den Krieg stützen.

AUS BELGRAD BERICHTET ERICH RATHFELDER

Tovarnik/Slawonien, am 24. September. Seit Wochen tobt hier der Krieg. Vier kroatische Zivilisten, an ihrer Kleidung als Bauern zu erkennen, gehen auf ein Haus zu. Sie werden unter Feuer genommen. Einer von ihnen ist sofort tot, die drei anderen bleiben verletzt liegen. Ohne das Schreien der Verletzten weiter zu beachten, kommen einige Soldaten der jugoslawischen Volksarmee aus dem Haus. Doch plötzlich tritt ein Mitglied der serbischen Territorialverbände auf den Plan. Er nähert sich den Verwundeten, richtet seine Pistole auf den Kopf eines der Opfer und drückt ab. Noch zwei weitere Schüsse fallen. Die kroatischen Bauern sind tot.

So berichtet ein holländischer Journalist eine Kriegsszene in Slawonien, deren Zeuge er war. Nur der Anwesenheit einer serbischen Übersetzerin sei es zu verdanken, daß er selbst mit dem Leben davonkam. Denn die Morde an den Zivilisten würden vertuscht. Die Presse in Serbien wird erst dann aktiv, wenn es gilt, ähnliche Grausamkeiten der anderen Seite zu dokumentieren. Auch da lassen sich genug Beispiele finden. Der zweijährige Junge, der erschossen und in ein Feuer geworfen wurde, oder die Ermordung einer schwangeren Frau. In Kroatien liegen die Dinge ähnlich — nur mit umgekehrten Vorzeichen.

Die Grausamkeiten erinnern an die des Zweiten Weltkrieges. In manchen Städten und Regionen, wie Osijek und Vukovar, hat der Krieg heute schon mehr an Zerstörungen verursacht als das Gemetzel vor 50 Jahren. Der Krieg entfaltet eine Logik, die selbst den mächtigsten politischen Kontrahenten zu entgleiten droht. Zwar hat sich nun herausgestellt, daß er von serbischer Seite zur Eroberung kroatischen Territoriums genutzt wird. Aber da weder die Armee als ganze noch viele der Milizen irgendeiner Instanz unterstehen, sind die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung nicht zu kontrollieren. Innerhalb der Armee handeln manche Kommandeure auf eigene Faust. An einzelnen Abschnitten der Front operieren Armeeinheiten, serbische Territorialeinheiten und Milizen in einem wilden Durcheinander.

In dieser Situation selbst nur auf die Einhaltung der Genfer Konvention zu hoffen, wäre schon vermessen. Die Berichte über die Tötung verwundeter kroatischer Nationalgardisten häufen sich. Im Gegenzug haben kroatische Gardisten diese Praktiken des Gegners zunehmend übernommen. Auf beiden Seiten werden in den vom Staat gelenkten Medien lediglich die Grausamkeiten des Gegners herausgestellt, um die Kriegsstimmung zu schüren.

Unter diesen Umständen muß es geradezu verwundern, daß eine Umfrage vor zwei Wochen in Serbien ergab, daß eine große Mehrheit der Bevölkerung sich gegen den Krieg ausspricht. „Der Krieg ist von den Extremisten begonnen worden und wird von den politischen Eliten zum Zweck der eigenen Machterhaltung unterstützt, was aber bitte habe ich damit zu tun?“ Der junge Student aus Belgrad, der sich dies fragt, hat als Kind lange im Ausland gelebt. „Alle meine Freunde denken so wie ich. Wir wollen nicht in diesen Krieg.“ Nachdem seit dem letzten Wochenende erneut verstärkt Reservisten ausgehoben werden, bereitet er sich auf seine Flucht ins Ausland vor.

Noch hat der Krieg Belgrad nicht erreicht. Das Leben funktioniert normal, es gibt weder Hamsterkäufe noch Engpässe in der Versorgung. Nur die Schlangen vor den Tankstellen sind kilometerlang geworden. Nur am letzten Montag unterbrach das Kettenrasseln eines Panzers den Frieden in der Etappe. Ein Schützenpanzer durchfuhr die Stadt und kam erst vor dem Parlament zum Stehen. Der 30jährige Reservist Vladimir Sivkovic forderte die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen. Er hatte die Front in Slawonien verlassen, war unbehelligt bis Belgrad gefahren, um gegen den Krieg zu protestieren. Er wurde natürlich sofort festgenommen. Doch inzwischen haben die Soldaten aus seiner Einheit und viele Menschen aus seinem Heimatort seine Freilassung gefordert. Ein Einzelfall?

In den letzten Tagen protestierten in Kragujevac, in Novi Sad, Vejlko Kaplana, in Zrenjanin und in Pozega Reservisten gegen ihren Einsatz im Krieg. Die Ablehnung des Krieges wird immer offener. In Serbien, wo im Juni die Mütter- oder Elternbewegung entstanden ist, hat sie nun manche der kämpfenden Reservisten erreicht — vor allem aber diejenigen, denen der Gang an die Front noch bevorsteht. Es ist kaum abzuschätzen, wie viele Jugendliche sich schon ins Ausland abgesetzt haben. Es sind vor allem die Kinder der Mittelschichten, die es sich leisten können, ihre Söhne auf „Urlaub“ zu schicken.

„Es ist eine spontane Bewegung der Mütter und Eltern“, sagt Lina Vuskovic, Gründerin der serbischen Frauenpartei. Sie ist, in ihren Ideen wie im Habitus, eine jener Frauen, die sich parallel zur westeuropäischen Frauen- und Friedensbewegung in den siebziger Jahren zusammenfanden. „Es sind Ad-Hoc-Komitees, die sich gebildet haben, zunächst und besonders stark in der Vojvodina, in Subotica, in Novi Sad, dann in Kroatien, in Bosnien, eigentlich in allen Republiken.“ Diese Eltern forderten als erstes den Waffenstillstand, dann den Rückzug der Soldaten der Volksarmee in ihre jeweilige Republik.

Lina Vuskovic und ihre FreundInnen — etwa 100 Menschen engagieren sich organisatorisch in den verschiedenen Gruppen in Belgrad — versuchen darüber hinaus, den Kontakt mit ähnlichen Initiativen in Jugoslawien, in Zagreb, in Sarajevo, in Ljubiljana und im Ausland zu intensivieren. „Die Demonstration am Samstag in Sarajevo, wo Tausende Menschen aus allen Republiken und die Friedenskarawane aus Westeuropa, die von den Helsinki-Gruppen organisiert ist, erwartet werden, faßt alle diese Aktivitäten nach außen hin zusammen.“ Sie verhehlt nicht, daß die Bewegung der Mütter und Eltern, die der Reservisten und die der herkömmlichen Friedensbewegung aus unterschiedlichen politischen Kulturen kommen. „Wir haben konkrete Hilfe geleistet, mit Rechtsanwälten und anderen Hilfestellungen.“ Aber sie wehrt sich gegen eine Organisierung der Bewegung von außen.

Gerade das will Pavlusko Imsirovic — mit gewissen Einschränkungen (siehe Interview). Er sieht in den spontanen Bewegungen den Ausgangspunkt für eine größere Friedensbewegung, die allein durch ihre Forderungen politischen Charakter erhält. Der Krieg stabilisiere die herrschenden Bürokratien in Kroatien und Serbien, die Durchsetzung der Forderung der Eltern und Reservisten eröffne daher auch Perspektiven für die Demokratisierung der Republiken. Daß in Bosnien die Friedensbewegung auch von offizieller Seite unterstützt wird, bekümmert ihn. Natürlich hätten auch die politisch Verantwortlichen gerade in Bosnien mit seiner Nationalitätendurchmischung das größte Interesse am Frieden, doch seien sie nicht Teil der Friedensbewegung. Lina Vuskovic dagegen sieht angesichts des Waffenpotentials der bosnischen Muslime in der Haltung der bosnischen Führung die Gefahr, daß die Friedensbewegung instrumentalisiert wird.

Wie ernst die serbische Führung die Friedensaktivitäten in ihrer Republik inzwischen nimmt, läßt ein Aufruf des Zentralkomitees der Sozialistischen Partei Serbiens vom letzten Wochenende erahnen. Die Friedensbewegung verbreite Desinformation, heißt es da, und untergrabe die Moral der serbischen Soldaten. Die jugoslawische Armee garantiere nur das Leben und die Unversehrtheit der serbischen Minderheit in Kroatien. Mit einem drohenden Unterton endet das Pamphlet: Das serbische Volk habe in seiner Geschichte seine Verräter immer eliminiert.

Die täglichen Treffen der Friedensbewegten vor dem Hotel Moskwa in Belgrad, wo Gegennachrichten verlesen wurden, finden seit einer Woche nicht mehr statt, die Bedrohung durch Geheimdienst und Nationalisten war zu groß. Nach einer Versammlung der Friedensbewegung am 28.August wurde Pavlusko Imsirovic kurzzeitig festgenommen. Die Vernehmer: „Wir können dich jederzeit isolieren und liquidieren.“