: Wenn aus Brennstäben Blei wird...
Das baden-württembergische Umweltministerium will jetzt die Karlsruher Wiederaufbereitungsanlage „gründlich überprüfen“/ 37 Brennstäbe „verschwunden“ ■ Von Hermann-Josef Tenhagen
Berlin (taz) — Je länger der Karlsruher Atomskandal andauert, und je mehr Atombrennstäbe verschwinden, desto verworrener werden die Fährten, auf denen sich Ermittler und Politiker bewegen. Auch vier Wochen nach dem Aufdecken von Schlampereien in der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK) sind die Behörden mit ihren Ermittlungen keinen Schritt weitergekommen. Aus drei verschwundenen Brennstäben sind 37 geworden, statt 4,2 Kilogramm Natur-Uran fehlen über 50.
Auch Bonn beginnt inzwischen auf die unglaublichen Vorgänge in Karlsruhe zu reagieren. Das Bundesforschungsministerium will jetzt Erkenntnisse der Internationalen Atombehörden zur Aufklärung des Atomskandals mit heranziehen. Auch die Behörden in Baden-Württemberg sollen die Inspektoren der Brüsseler Euratom befragen können.
Vorausgegangen war ein Rapport, zu dem die WAK-Leitung am vergangenen Dienstag ins Stuttgarter Umweltministerium zitiert wurde. Dort mußte sie die neue Verlustrechnung aufmachen: Während der WAK nach wie vor die drei zuerst vermißten Brennstäbe fehlen, präsentiert sie für die neuerdings vermißten 37 Brennstäbe zumindest eine Theorie, die auch Wissenschaftler für plausibel halten. Die unbestrahlten Natururan-Brennstäbe sollen demnach bereits Anfang der 80er Jahre zusammen mit bestrahltem Schrott zerlegt und in Betonfässer verpackt worden sein.
Danach waren jahrelang mit Blei gefüllte Attrappen für die Original- Brennstäbe gehalten worden. Der Irrtum fiel erst jetzt bei der Suche nach den zunächst vermißten drei Brennstäben auf.
Die Frage, wie eine solche Verwechslung über zehn Jahre den internationalen Behörden verborgen bleiben konnte, wird sicher eine zentrale Rolle bei den Gesprächen mit der Kontrollbehörde Euratom spielen. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) kritisierte den Vorgang als „einmaliges Versagen der Kontrollorgane“. Auch das Stuttgarter Umweltministerium sucht die Schuld für diese unglaublichen Versäumnisse zunächst in Wien und Brüssel.
Die beiden Behörden hätten zehn Jahre lang gemeldet, alles sei in Ordnung, sagt Ministeriumssprecher Thomas Langheinrich. Das Ministerium forderte deshalb die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien auf, ihr Kontrollverfahren „kritisch unter die Lupe zu nehmen“. Möglicherweise habe sich durch den jahrelangen Umgang mit noch brisanterem Strahlenmaterial als diesen Natururan-Brennstäben eine „abgestufte Aufmerksamkeit“ bei den Kontrolleuren eingestellt, vermutet Langheinrich.
Doch die Wiener schießen hart zurück: „Wir sind es gewohnt, daß in Deutschland alles sehr groß aufgeblasen wird“, erklärt IAEO-Sprecher Hans-Friedrich Meyer. Der damalige hessische Ministerpräsident Walter Wallmann habe die Wiener Behörde vor Jahren während des Hanauer Atomskandals ebenso kritisiert, wie das jetzt die Stuttgarter Landesregierung tue. Übriggeblieben sei schließlich kaum etwas. Meyer sieht hier großzügig über 2.500 verschobene Atommüllfässer hinweg. Fakt sei jedenfalls, so Meyer, daß die IAEO von der Euratom über die neuesten Vorgänge informiert worden sei und nun selbst Untersuchungen anstelle. Er räumte aber ein, daß die IAEO unter Personalmangel leide. Das Budget von 60 Millionen Dollar habe sich seit acht Jahren nicht erhöht, obwohl die Zahl der international zu kontrollierenden Anlagen deutlich zugenommen habe.
In Baden-Württemberg hat das Stuttgarter Ministerium erste Schritte zu einer gründlicheren Überprüfung der WAK unternommen. Es ordnete eine umfassende Überprüfung des gesamten Bestands an atomaren Kernbrennstoffen auf dem Gelände der WAK an. Im Rahmen dieser Gesamtinventur soll die WAK buchstäblich „auf den Kopf gestellt“ werden, so Langheinrich. Unter Aufsicht einer Kommission sollen Buchführung und Bestand abgeglichen werden. „Wenn die Bücher einmal nicht gestimmt haben, muß das geprüft werden“, so Langheinrich. Der Kommission unter Leitung des Ministeriums sollen KFK-Mitarbeiter und wahrscheinlich auch Gutachter vom TÜV Süd- West angehören.
Um den Verbleib der 37 Brennstäbe aufzuklären, wird das Kernforschungszentrum Karlsruhe (KFK) zusätzlich beauftragt zu prüfen, ob die Betonfässer mit den vermuteten Überresten der Brennstäbe geöffnet und der Inhalt überprüft werden können. Das KFK ist der Vermieter von Gelände und Anlagen der WAK. Die KFK solle in die Verantwortung eingebunden werden, heißt es dazu in Stuttgart. Das Ministerium will auf diese Weise verhindern, daß weitere Fehlmeldungen tröpfchenweise an die Öffentlichkeit gelangen. An einen Untersuchungsausschuß im Landtag wird aber nicht gedacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen