NACHDENKEN AUF RUSSISCH: Musikanten in Asbest ...
■ ... oder: Wie das Leben so spielt
Sie trafen sich am späten Abend in der Hotelbar. Sie waren beide nach dem Konzert müde und hungrig. (Ich werde ihre Namen nicht nennen — die sind nicht wichtig). Der Orchestermusiker ging zum Pianisten, der gerade ein Mozart-Konzert zu Ende gespielt hatte und dabei war, einen Salat zu essen und eine Cola zu trinken. Er beglückwünschte den Kollegen zu seinem großen Erfolg und sie begangen, sich zu unterhalten.
Der Pianist wurde während des Krieges in Sibirien geboren. Dann wohnte, studierte und arbeitete er in Leningrad und kam letztes Jahr nach Berlin. Der Orchestermusiker — ehemaliger Soldat der Wehrmacht — war noch drei Jahre nach dem Krieg Gefangener in der sibirischen Stadt Asbest. Als er heimkehrte, war er plötzlich in der DDR gelandet, lebte und arbeitete in Frankfurt an der Oder.
»Asbest?« Der Pianist zuckte zusammen. »Ich war in diesem Loch vor ungefähr zehn Jahren. Und stellen Sie sich vor, dort gab ich eines meiner besten Konzerte.
Gewöhnlich wird man in eine der großen Städte abkommandiert, zum Beispiel nach Swerdlowsk. Du kommst dort an, aber die dortige Konzertagentur braucht dich nicht, und sie schicken dich irgendwohin weiter, wo sie dich erst recht nicht gebrauchen können. Denn dort ist im allgemeinen kein Publikum, welches auf das Hören von klassischer Musik vorbereitet wäre. Aber in den regionalen Musikschulen steht irgendein Instrument herum.
Du hast bereits tausende von Kilometern zurückgelegt, bist durchgefroren und unausgeschlafen. Du wartest, bis sich in dem nicht sehr großen Raum um den Flügel die Musiklehrer mit ihren Schülern versammelt haben — zehn, vielleicht 15 deiner Zuhörer. Und so beflügelt plötzlich die Absurdität dieser ganzen Situation die Wahrnehmung einer nie dagewesenen Freiheit, du spielst wie von Ketten befreit und wie nie zuvor: Unter deinen Fingern werden die besten Interpretationen geboren, alles gelingt — dann spielte ich eine Scarlatti-Sonate nach der anderen. Spielte lange, vielleicht mehr als eine Stunde und ohne Pause. Ich vergaß, wo ich war und weswegen ich da war.« — »Und haben sie zugehört?« fragte der Orchesterspieler. »Sie standen da wie versteinert.«
Der Pianist verstummte. Dann wurde er wieder lebhaft. »Ich erinnere mich, als ich sechs Jahre alt war, und nach der Evakuierung schon in Leningrad wohnte. Wir liefen mit unseren Freunden auf dem Hof herum, und deutsche Gefangene reparierten das Nachbarhaus. Einer spielte manchmal auf einer Mundharmonika, was mir sehr gefiel. Und dann ging ich zu ihm hin, stellte mich vor ihm auf und begann aus vollem Halse die >Internationale< zu singen, sozusagen als Selbstbestärkung.«
Der Pianist und der Orchestermusiker lachten. »Ja«, seufzte der Orchesterspieler, »wie das Leben so spielt. Heute musizierten wir vor dreitausend Zuhörern. Und früher waren wir beide in Asbest. Ich als gefangener Soldat und Sie von der Musik gefangen. Und wir beide überlebten die Gefangenschaft des sozialistischen Systems. Heute existieren die DDR und die UdSSR nicht mehr so, wie sie mal waren.« — »Und Leningrad heißt schon nicht mehr Leningrad, sondern Sankt Petersburg«, stellte der Pianist mit Vergnügen fest. »Vielleicht war ja auch Lenin in Wirklichkeit nicht so gütig und großherzig, wie man uns eintrichtern wollte«, schloß der Orchesterspieler.
... Gespenster gehen um? Wenn sie doch endlich weggingen. Und wenn doch erst überall an ihre Stelle der Geist der Kultur und gegenseitiges Verständnis treten würde — der Geist der Musik. So wie an jenem Abend, als sich in einer Hotelbar zwei Musikanten trafen. Maja Elik
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen