Schießbefehl und Offiziersehrgeiz

Im Prozeß um die „Mauerschützen“ weist das Gericht die Beweisanträge der Verteidiger zurück  ■ Aus Berlin Götz Aly

„Abgelehnt, abgelehnt, abgelehnt...“ Insgesamt zehn Anträge der Verteidigung wischte der Vorsitzende Richter Seidel so in den ersten Minuten der gestrigen Verhandlung um den Tod des Chris Gueffroy vom Tisch. Der Sammelablehnung aller Beweisanträge folgte die ebenso schnelle Begründung, daß diese Anträge eben „unbegründet“ seien. Kein Halbsatz, der darauf deuten würde, das Gericht halte den einen oder anderen Antrag zumindest für teilweise berechtigt oder bedenkenswert. Der Verhandlungsstil des Gerichts ist ledern, die vom Vorsitzenden selbst zweimal beschworene „Entwicklung einer Verfahrenskultur“ wird durch die eher standgerichtliche Ablehnungs- und Zurückweisungspraxis ruiniert.

Apropos „Verfahrenskultur“: Die Mutter des Getöteten zog sich in der letzten Woche von der Nebenklage zurück, weil sie das Verfahren zu sehr belaste. Sie erklärte das nicht in der Hauptverhandlung, sondern in der Boulevardzeitung 'Super‘, jenem Blatt, das tagelang das starr-erschrockene, erstarrte Antlitz ihres erschossenen Sohnes vermarktet und mit den rechtswidrig aufgekauften Obduktionsfotos Geld und Stimmung gemacht hatte. Stimmung machte auch der Bürgermeister von Drachhausen, dem Heimatort des Angeklagten Schmett. Er übergab dem Staatsanwalt 1.353 Unterschriften aus der 900-Seelen-Gemeinde, den umliegenden Dörfern und natürlich aus dem Fußballverein des Angeklagten — sie alle fordern die Einstellung des Verfahrens. Der Bürgermeister, früher SED und immer im Dienst des Dorfes und nicht „des Systems“, sprach von einem „völligen Versagen der Strafjustiz“. Über das Schießen an der Grenze sagte er: „Die Situation war eben so.“

Die Berliner Justiz geht derweil eigene Wege: Stolz und selbstgewiß kündigte sie in der letzten Woche das nächste „Mauerschützen“-Verfahren an. Es geht dabei um den 1984 in Berlin-Pankow erschossenen 19jährigen Zimmermann Michael Schmidt. Wieder werden lediglich zwei unmittelbar beteiligte Soldaten angeklagt werden. Gleichzeitig konnte sich einer der obersten Grenzer, General Karl Leonhardt, in der 'Zeit‘ juristisch nach wie vor unbehelligt zum „Zeitzeugen“ aufbauen und über „die Bedürfnisse der Grenzsicherung“ schwadronieren.

Dabei gehört die Befehlslage zu den ernsthaften Problemen des gegenwärtigen Verfahrens. Denn offensichtlich galt nach der Zeugenaussage des Zugführers Alexander Hanf, daß der Schießbefehl im Dezember 1988 eingeschränkt wurde: Es sollte nur noch bei „Fahnenflucht, Gefahr für Leib und Leben des Soldaten und bei Angriffen mit schwerer Technik geschossen werden“. In dem Grenzabschnitt, in dem dann Gueffroy starb, nahmen allerdings die geglückten Fluchten erheblich zu, und es waren Offiziere und Unteroffiziere, die den Schießbefehl unter der Hand wieder verschärften. Den Grenzsoldaten machten sie klar: „Bei zwei Personen besteht Gefahr für Leib und Leben, wenn es nur einer war, dann habt ihr eben einen Schatten gesehen — schießt, wenn ihr sie nicht anders kriegt!“ Es ging dabei um die Karriere der Vorgesetzten und darum, dem „Ehrennamen“ der Kompanie eben Ehre zu machen. Einer der Vorgesetzten, der Unteroffizier Uwe Hapke, riet regelmäßig, „Flüchtlinge — wenn nicht anders möglich — fluchtunfähig zu schießen“. Inzwischen ist er wohlbestallter Polizist in Potsdam. Auf die Frage, warum er so wenig Konkretes zur Nacht vom 5./6. Februar 1989 sage, antwortete Hapke pampig: „Seit Deutschland wieder eins ist, habe ich versucht, diese Nacht zu vergessen, um im Kopf Platz zu haben — für meinen jetzigen Beruf.“

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Glaubwürdigkeit ist eine Qualität, die sich die gesamtdeutsche Justiz erst noch erwerben muß. Sie muß es vor allem dort, wo es darum geht staatliches Unrecht der Ex-DDR anzuklagen. Bekanntlich hatte man sich in den Fällen Mielke und Tisch auf privates Unrecht beschränkt: auf die berühmten, doch eher lächerlichen Datschen. Beharrlich weicht die Justiz der substantiellen Beurteilung staatlichen Unrechts aus. Sie scheut den Versuch, einzelne mehr oder weniger bedeutende Funktionäre wg. ihrer amtlichen Tätigkeit vor Gericht zu stellen, sie scheut sich, die Räder und Rädchen des Unrechtsgetriebes beim Namen zu nennen.

Statt dessen klagen die Staatsanwaltschaften an, was ihnen am bequemsten erscheint. Im nächsten „Mauerprozeß“ werden wieder normale Wehrpflichtige, sogenannte „Mauerschützen“ angeklagt — die letzten Glieder langer Befehlsketten. Das geschieht bevor das erste Verfahren entschieden ist und erzeugt für das laufende Verfahren einen seltsamen Verurteilungsdruck. Tatsächlich hätte jetzt, nach dem schwierigen ersten Verfahren, ein Prozeß gegen Generäle und Offiziere des Berliner Grenzkommandos angekündigt werden müssen. Das wäre ein Prozeß, den die Moabiter Richter in ihren Eröffnungsbeschlüssen und Urteilen gegen einfache Grenzsoldaten als zwingende rechtliche Voraussetzung fordern müßten. Ein Prozeß auch, der den Staatsanwälten mehr Arbeit abverlangt als die einfache Anklage Grenzopfer/Todesschütze. Der Entwicklung des Rechts und der Sensibilisierung eines gestörten Rechtsempfindens erweisen die Moabiter Strafjuristen mit dem Vorpreschen allein gegen die Schützen einen Bärendienst. In drei Jahren wird man möglicherweise zu Recht sagen: „Die Kleinen wurden gehenkt — die Großen ließ man laufen.“