: Trümmer im Niemandsland
■ Bettina Flitners Fotografien zur deutschen Einheit
Letzten Endes ist die Photographie nicht dann subversiv, wenn sie erschreckt, aufreizt oder gar stigmatisiert, sondern wenn sie nachdenklich macht.
Roland Barthes
Ende des Jahres 1989 machten die Bilder rund um die Berliner Mauer Mut zum Aufbruch in eine neue Zeit. Alles schien möglich. Im Wogen der Menge geriet der Mythos Mauer ins Wanken. Das alte Symbol der Trennung bekam Löcher. Bald darauf wurde es demontiert. Als nun freie Sicht auf freie Bürger herrschte, verkroch die Euphorie sich bald — ziemlich verkatert.
Ein halbes Jahr später. Mitten im Sommer gerät die Fotografin Bettina Flitner, eher zufällig als vorausschauend, auf den heiligen Todesstreifen. Zehn oder 20 Meter ist er breit, wilde Pflanzen wuchern, Kaninchen leben hier. Rechts und links Trümmer: Mauerreste, gestürzte Türme, gerollter Stacheldraht. Spuren des Aufbruchs, dem kein Abbruch mehr folgte.
Zwischen verbogenem Stahl und zerbröckelndem Stein trifft die Fotografin immer wieder Menschen. Versprengte, irgendwo auf dem schmalen Fetzen Erde, der eine weitere Narbe der versehrten Körper der Stadt bezeichnet. Bettina Flitner spricht mit ihnen, den jungen, alten Ossis, Wessis, den Touristen und Anwohnern, Neugierigen und Verwirrten. Sie bittet sie, sich fotografieren zu lassen. Dreieinhalb Monate sammelt sie Gesichter, Gestalten und Gesprächsfetzen. Dabei entstehen Porträts, die im Gegensatz zu der weihevollen Vereinigungsmaskerade des Staates ein ungeschminktes Gesicht der Nation preisgeben.
Mit kurzen Sätzen der Porträtierten kombiniert Bettina Flitner ihre Fotos. Blitzlichtartig werden Schicksale beleuchtet, der Schauplatz deutscher Geschichte aufgehellt.
»Meine Eltern waren Rote. War doch alles so lasch hier. Fünf Jahre habe ich wegen Republikflucht gesessen. Jetzt bin ich in der französischen Fremdenlegion«, sagt ein junger Mann. Seine Haare sind kurz geschoren, er trägt Springerstiefel und einen Tarnanzug. In der Hand hält er einen Aktenkoffer. Er sieht aus wie ein Buchhalter, der alles in der Welt sein will — nur kein Buchhalter. Hinter ihm die Mauer läßt keinen Platz mehr für den Himmel. Die Graffitis sind abgeschlagen, sichtbar ist der Stahl im Beton.
»Ob sich für uns was ändert? Nö, eigentlich nicht.« Drei Mädchen hocken auf einer umgestürzten Platte, die Körper verschränkt, die Knie angezogen. Sie sind nicht halb so alt wie ihr Blick. Der einen hängen die Stöpsel des Walkmans in den Ohren, doch Abgeschlossenheit umgibt alle drei. Wie die berühmten Affen sind sie ihre Sinne los, keine Musik, nur Rauschen.
Eine eigentümliche Stille liegt über allen Fotos. Die Depression ist lautlos, der Verlust von Geborgenheit aber unübersehbar. Eine Bierflasche, eine Videokamera, eine Plastiktüte, die Hundeleine: Daran halten die Menschen auf den Fotos sich fest. Entweder stehen sie mit dem Rücken an der Wand, oder in einer Leere, die kein Freiraum ist, wo keine beziehbaren Positionen Deckung verschaffen. Derart der Leere ausgesetzt, nehmen sie Posen ein. Die Fotografin hat alle ihre Modelle arrangiert. Dadurch sind sie aber genau das: Modelle. Modelle Deutschlands. Die Posen sind Metaphern. So kann sich der Betrachter einlassen, ohne indiskret sein zu müssen.
Bettina Flitners Reportage aus dem Niemandsland ist schwarzweiß. Sie dokumentiert Abrißarbeiten einer Gesellschaft und das, was übrigbleibt. Von Trümmern im Inneren der Menschen erzählt sie, die größer sind als die der Mauer. Kein Wunder, daß sich über ein Jahr lang kein Verlag bereit erklärte, die Fotos als Bildband herauszubringen. »Nicht kommerziell genug«, hieß die Begründung. Geschichtsbücher sind nie kommerziell. Carsten Hueck
Ausstellung in der Elefanten Press Galerie, Oranienstr. 25, Berlin 36, bis 17. November, mo. bis sa. 10 bis 18.30 Uhr, so. 13 bis 18 Uhr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen