: Version Ost: Drei Seelen wohnen in der Brust
Entfaltung des Individualismus, soziales Netz und Anti-Etatismus als unzureichendes Miniprogramm ■ Von Christian Semler
Hätte es nur kurze Zeit vor der demokratischen Umwälzung in Osteuropa eine Expertenumfrage zu dem Thema gegeben „Wer beerbt die sterbenden realsozialistischen Parteien?“ — die Antwort wäre eindeutig ausgefallen: die Sozialdemokraten. Keine andere Kraft schien besser geeignet für einen gesellschaftlichen Übergang, der die Postulate der Modernisierung und der sozialen Gerechtigkeit hätte versöhnen können. Vor allem aber gab es einen erprobten Fahrplan. Mit Hilfe der Sozialistischen Internationale war es in mindestens drei Fällen — Spanien, Portugal und Griechenland — gelungen, aus zersplitterten Intellektuellen- und Gewerkschaftergruppen eine schlagkräftige reformistische Wahlpartei zu schmieden, die Kommunisten zu isolieren und für die gesamte Übergangsperiode die Staatsmacht zu monopolisieren.
In Osteuropa hingegen ergibt sich für die Sozialdemokraten zwei Jahre nach der demokratischen Wende die Bilanz einer verheerenden Niederlage. Auch in Rußland und den anderen europäischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind die Aussichten des „demokratischen Sozialismus“ alles andere als licht. Warum?
Die Antwort scheint offen zutage zu liegen. Die Katastrophe des Realsozialismus hat jede mögliche Linksorientierung diskreditiert. Die Menschen haben das Kollektiv satt, und zwar in jeder Form. Aber, mit Marx bemerkt: Wenn Wesen und Oberfläche stets zusammenfielen, wäre jede Wissenschaft überflüssig.
Die Geschichte des Widerstands im letzten Jahrzehnt des Realsozialismus belegt, daß ein geradezu unbändiger Durst nach Individualität sehr wohl zusammengehen kann mit kollektiver Aktion und „Festhalten“ an kollektiven Machtpositionen. Die Forderung nach Arbeiterselbstverwaltung und einer demokratischen Kontrolle der Wirtschaftsreform bildeten die Essenz der Solidarność- Programmatik von 1981. Wenn heute die Idee der Selbstverwaltung in Osteuropa traktiert wird wie ein toter Hund, wenn Jacek Kuron, ein Linker, unwidersprochen behaupten kann, erst der Markt, danach Kapitalismus „mit menschlichem Antlitz“— dann muß es für diesen Umschwung tiefere, nämlich objektive Ursachen geben.
Deren wichtigste ist das Scheitern jeder Konzeption des „dritten Weges“. Das Gros der staatlichen Betriebe ist chronisch unterkapitalisiert und schleppt einen hoffnungslos veralteten Maschinenpark mit sich herum. Rationalisierungs- und Investitionsstrategien von Staats wegen sind illusionär, denn es steht kein Kapital zur Verfügung. Der Staatshaushalt muß schrumpfen, damit die Inflation eingedämmt werden kann. Eine Strukturpolitik sozialdemokratischer Provenienz mit oder ohne selbstverwaltete Betriebe stößt damit auf eine schwer zu überwindende Schranke. Zu dem ökonomischen Dilemma gesellt sich das politische. Der alte Planungs- und Steuerungsapparat zerfällt, was übrigbleibt, ist für eine rationale Wirtschaftspolitik untauglich. Die smarten unter den ehemaligen Planbürokraten sind zu freien Unternehmern mutiert oder tummeln sich im Bankgewerbe. Der Rest ist, was er immer war: passiv.
Der Sozialdemokrat osteuropäischen Musters erhält unter diesem Druck eine eigenartige ideologische Prägung. Drei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Von Margaret Thatcher entlehnt er das Bekenntnis zur Entfesselung des „Individualismus“ und der kapitalistischen Produktivkräfte, von der SPD das staatlich garantierte „soziale Netz“ und von Grünen/Öko-Sozialen eine Brise von Anti-Etatismus und gesellschaftlicher Selbstorganisation. Mit Ausnahme der einflußlosen polnischen Intellektuellentruppe „Solidarność Pracy“ ist es in Osteuropa keiner sozialdemokratischen Gruppierung gelungen, diese Ingredienzen zu einem Aktionsprogramm „mittlerer Reichweite“ zu verdichten.
Keine dieser neuen Parteien kann sich auf eine entwickelte Gewerkschaftsbewegung stützen. Es gibt keine „Kaderreserve“. Ausgeschlossen ist damit auch, daß sich im Inneren der Partei fruchtbare Spannungen zwischen Partei und „Bewegung“, zwischen Korporativinteressen und allgemeingesellschaftlichen Zielsetzungen aufbauen. Einst stolze Arbeiterparteien wie die polnische PPS oder die ungarischen Sozialdemokraten sind durch Grabenkämpfe zwischen Emigranten und „Einheimischen“, zwischen den Generationen und zwischen Intellektuellenzirkeln, die für keinerlei programmatische Arbeit stehen, zerrissen. So wird die Sozialdemokratie in den Strudel des Mißtrauens und der Verachtung gerissen, der generell in Osteuropa gegenüber den neuen Parteien vorherrscht.
Ihre westlich-rationalistische Orientierung verbietet den Sozialdemokraten jeden Rekurs auf den demagogischen „Antikapitalismus“, der sowohl den Schutz der nationalen Besitzgüter als auch den Erhalt der Arbeitsplätze als auch ökonomische Entwicklung verspricht. Die sozialdemokratischen Parteien werden zu Opfern einer Zangenbewegung. Ihr Liberalismus wird von den Monetaristen, den radikalen Durchstartern Richtung „Kapitalismus — koste es, was es wolle“, als lauwarm denunziert. Die gewendeten realsozialistischen Parteien hingegen werfen ihnen Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse und der Bauern vor. Die Ex-Realsozialisten der Region bezeichnen sich ausnahmslos als Sozialisten oder Sozialdemokraten. Sie sind gut betucht (aus dem alten Parteivermögen) und schlagkräftig organisiert. Ihr potentielles Klientel besteht nicht nur aus den entmachteten Bürokratengruppen, sondern reicht tief in die Belegschaften der zum Untergang verurteilten Industriezweige. In Ostmitteleuropa erreichen sie mit einem Programm sozialer Defensive mindestens zehn Prozent der Stimmen. In Südosteuropa haben sie sich mit einer großangelegten nationalistischen Volte in vier Ländern an der Macht behauptet.
Daß das Programm der Wendesozialisten populistisch und perspektivlos ist, nutzt den Sozialdemokraten überhaupt nichts. Denn nicht sie, sondern die nationalistische Rechte steht bereit, deren Erbe anzutreten.
Dies ist um so fataler, als der neoliberale Impuls sich in Osteuropa erschöpft. Weder gelingt es, das industrielle Potential auf den Weg der Privatisierung bzw. Modernisierung zu bringen, noch kann der erreichte Standard in der Inflationsbekämpfung gehalten werden. Das ausländische Kapital wartet ab, die Integration in den westeuropäischen Markt ist in weite Ferne gerückt. Folge: Die „soziale Frage“ steht im Osten wieder auf, aber die Sozialdemokratie bleibt am Boden.
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